Ungarn

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte: Index.hu Zrt. gegen Ungarn

IRIS 2023-9:1/22

Dirk Voorhoof

Menschenrechtszentrum, Universität Gent und Legal Human Academy

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) fällte ein Urteil in einer Rechtssache zu einer Entscheidung ungarischer Gerichte, das Internet-Nachrichtenportal Index.hu zur Zahlung von Schadenersatz zu verpflichten, weil es eine von einer dritten Person erzählte Geschichte veröffentlicht hatte, die von den inländischen Gerichten als unwahr und verleumderisch befunden wurde. Der EGMR betrachtete die Index.hu auferlegte objektive Haftung für die Wiedergabe der Äußerungen, unabhängig davon, ob der Autor oder der Herausgeber in gutem oder schlechtem Glauben und unter Einhaltung der journalistischen Aufgaben und Pflichten handelte, als Verletzung des Rechts von Index.hu auf journalistische Berichterstattung, wie es in Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) garantiert ist.

Index.hu hatte vor dem Straßburger Gerichtshof geklagt, der fragliche Artikel betreffe eine Person des öffentlichen Lebens, genauer gesagt den damaligen ungarischen Staatspräsidenten János Áder, und damit eine Angelegenheit von öffentlichem Interesse. Die angeordnete Zahlung einer Entschädigung verstoße gegen das Recht des Nachrichtenportals auf freie Meinungsäußerung als Online-Nachrichtenmedium.

In seiner Feststellung einer Verletzung von Artikel 10 EMRK wies der EGMR erneut darauf hin, dass ein Politiker sich unausweichlich und wissentlich einer eingehenden Prüfung jedes seiner Worte und jeder seiner Taten sowohl durch Journalisten als auch die breite Öffentlichkeit aussetze und daher ein entsprechend höheres Maß an Toleranz aufbringen müsse. János Áder habe sicherlich ein Recht auf den Schutz seines guten Rufs, die Erfordernisse eines solchen Schutzes seien von den inländischen Gerichten aber gegen das öffentliche Interesse an der offenen Diskussion politischer Fragen abzuwägen gewesen. Im vorliegenden Fall hätten die inländischen Gerichte jedoch keine solche Abwägung vorgenommen und es versäumt, den Beitrag des Artikels zur Debatte über eine Angelegenheit von öffentlichem Interesse oder die eingehende Prüfung, die János Áder hinsichtlich seiner Handlungen hätte erwarten müssen, in ihre Beurteilung einzubeziehen. Der EGMR bekräftigte darüber hinaus, dass die Berichterstattung der Medien über „Geschichten“ oder „Gerüchte“ - die von anderen Personen stammen - oder über die „öffentliche Meinung“, sofern diese nicht jeglicher Grundlage entbehrten, im Rahmen ihrer Rolle als „öffentliche Kontrollinstanz“ zu schützen sei. Die Index.hu auferlegte objektive Haftung für die Wiedergabe verleumderischer Äußerungen Dritter sei nur schwer mit der bestehenden Rechtsprechung zu vereinbaren, wonach die „Bestrafung eines Journalisten für die Beihilfe zur Verbreitung von Äußerungen, die eine andere Person in einem Interview gemacht hat, den Beitrag der Presse zur Diskussion von Angelegenheiten von öffentlichem Interesse ernsthaft behindern würde und nicht in Betracht gezogen werden sollte, es sei denn, es liegen besonders gewichtige Gründe dafür vor“ (siehe Jersild gegen Dänemark, IRIS 1995-1/2 und Thoma gegen Luxemburg, IRIS 2001-9/1). Vor diesem Hintergrund kam der EGMR einstimmig zu dem Schluss, die inländischen Gerichte hätten es versäumt, Normen anzuwenden, die mit den in Artikel 10 EMRK verankerten Grundsätzen in Einklang stehen. Der fragliche Eingriff sei daher in einer demokratischen Gesellschaft nicht notwendig gewesen und verstoße also gegen Artikel 10 EMRK (siehe auch Magyar Jeti Zrt. gegen Ungarn, IRIS 2019-2:1/1).


Referenzen

  • Judgment by the European Court of Human Rights, First Section, in the case of Index.hu Zrt v. Hungary, Application no. 77940/17, 7 September 2023
  • https://hudoc.echr.coe.int/eng?i=001-226196
  • Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, Erste Sektion, in der Rechtssache Index.hu Zrt gegen Ungarn, Beschwerde Nr. 77940/17, 7. September 2023

Verknüpfte Artikel

IRIS 2019-2:1/1 Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte: Magyar Jeti Zrt gegen Ungarn

IRIS 2001-9:1/1 Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte: Rechtssache Thoma gegen Luxemburg

IRIS 1995-1:1/2 Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte: Journalistische Berichterstattung über rassistische Äußerungen durch Art. 10 EMRK geschützt

Dieser Artikel wurde in IRIS Rechtliche Rundschau der Europäischen Audiovisuellen Informationsstelle veröffentlicht.