Belgien

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (Große Kammer): Hurbain gegen Belgien

IRIS 2023-8:1/21

Dirk Voorhoof

Menschenrechtszentrum, Universität Gent und Legal Human Academy

Am 4. Juli 2023 hat die Große Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) die Schlussfolgerung des Kammerurteils vom 22. Juni 2021 im Fall Hurbain gegen Belgien (IRIS 2021-8/27) bestätigt. Der EGMR stellte fest, dass ein Gerichtsbeschluss zur Anonymisierung eines Artikels im elektronischen Archiv einer Zeitung nicht gegen das Recht auf freie Meinungsäußerung des Herausgebers gemäß Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verstößt. Das Urteil beinhaltet eine Anwendung des „Rechts auf Vergessenwerden“ im Rahmen des Rechts auf Privatleben gemäß Artikel 8 der EMRK, insbesondere im Hinblick auf Medienarchive (siehe auch IRIS 2013-9/1 und IRIS 2018-8/1). Im Wesentlichen bestätigt das Urteil, dass das Recht auf Vergessenwerden unter bestimmten Umständen schwerer wiegen kann als die Unversehrtheit von Online-Nachrichtenarchiven und das Recht auf freie Meinungsäußerung und Informationsfreiheit. Da dies das erste Mal ist, dass der EGMR eine Maßnahme zur Änderung von Informationen bestätigt, die rechtmäßig zu journalistischen Zwecken veröffentlicht und auf einer Website eines Nachrichtenmediums archiviert wurden, veröffentlicht IRIS eine ausführliche Zusammenfassung dieses Urteils der Großen Kammer.

Sachverhalt, innerstaatliche Verfahren und Kammerurteil

Der Beschwerdeführer in diesem Fall ist der Herausgeber der belgischen Tageszeitung Le Soir. Er wurde per Zivilurteil 2013 angewiesen, die digitale Fassung eines 1994 in der Zeitung veröffentlichten und 2008 dem Online-Archiv hinzugefügten Artikels zu anonymisieren, um die Beschwerde einer Einzelperson in Bezug auf das Recht auf Vergessenwerden zu berücksichtigen. Im ursprünglichen Artikel wurde der vollständige Name der Einzelperson, Doktor G., genannt, der einen tödlichen Straßenverkehrsunfall verursacht hatte. Der Gerichtsbeschluss zur Anonymisierung des Online-Artikels wurde 2014 vom Berufungsgericht und 2016 von der Cour de Cassation (belgisches Oberstes Gericht) bestätigt. Der Herausgeber von Le Soir, Hurbain, reichte eine Beschwerde beim EGMR ein und machte geltend, dass der Beschluss zur Anonymisierung ein Verstoß gegen Artikel 10 der EMRK sei. Die belgische Regierung verteidigte die Entscheidung der innerstaatlichen Gerichte, während Doktor G. als Drittbeteiligter in dem Verfahren vor dem Straßburger Gerichtshof auftrat und Schutz gemäß Artikel 8 der EMRK und sein Recht auf Vergessenwerden einforderte.

Im Kammerurteil vom 22. Juni 2021 wurde kein Verstoß gegen Artikel 10 der EMRK festgestellt (IRIS 2021-8/27). Der EGMR bestätigte, dass das wirksamste Verfahren zur Gewährleistung der Achtung von Doktor G.s Privatleben, bei dem die freie Meinungsäußerung der Zeitung nicht unverhältnismäßig beeinträchtigt werde, die Anonymisierung des Artikels auf der Website der Zeitung durch die Ersetzung des vollen Namens der Person durch den Buchstaben X sei. In einer abweichenden Meinung von Richter Pavli wurde argumentiert, dass das Urteil des Gerichts gegen einen neu entstehenden, aber eindeutigen europäischen Konsens verstoße, dass Beschwerden zum Recht auf Vergessenwerden im Online-Bereich wirksam durch Deindexierung von Suchmaschinenergebnissen begegnet werden kann und sollte und nicht durch die Änderung des Inhalts von Online-Nachrichtenarchiven.

Auf Antrag von Hurbain wurde der Fall in Anwendung von Artikel 43 der EMRK an die Große Kammer verwiesen. Die Nichtregierungsorganisation zur Verteidigung der freien Meinungsäußerung, Article 19, reichte gemeinsam mit 15 anderen Organisationen und Einrichtungen als Drittbeteiligte eine gemeinsame Stellungnahme beim EGMR ein. Sie argumentierten, dass zwar die betreffenden Rechte gegeneinander abgewogen werden müssten, die dauerhafte Entfernung von Informationen aus einem digitalen Medienarchiv jedoch keine verhältnismäßige Einschränkung der freien Meinungsäußerung sei und schädliche Auswirkungen auf die Integrität dieses Archivs hätte, das ein wesentlicher Bestandteil der Nachrichtensammlung und Berichterstattung sei.

Der Ansatz der Großen Kammer hinsichtlich der Grundsätze

Das Urteil des Gerichts beginnt mit der Bemerkung, dass es in diesem Fall ausschließlich um die dauerhafte Verfügbarkeit der Informationen im Internet gehe und nicht um ihre ursprüngliche Veröffentlichung per se und dass der Originalartikel auf rechtmäßige und nicht diffamierende Weise veröffentlicht worden sei. In den einleitenden Bemerkungen des Urteils wird zudem betont, dass es einen Nachrichtenbericht betreffe, der zu journalistischen Zwecken veröffentlicht und anschließend auf der Website eines Nachrichtenmediums archiviert wurde, und damit ein Thema, das im Zentrum der durch Artikel 10 der EMRK geschützten freien Meinungsäußerung steht. Der EGMR wiederholt auch seinen Grundsatz, dass die Presse nicht nur die Aufgabe habe, Informationen und Ideen weiterzugeben, sondern dass die Öffentlichkeit auch ein Recht habe, sie zu empfangen – wenn nicht, wäre die Presse nicht in der Lage, ihre entscheidende öffentliche Rolle des „Wachhunds“ (Public Watchdog) einzunehmen. Deshalb müssten für jegliche Maßnahme, die den Zugang zu Informationen einschränkt, zu deren Empfang die Öffentlichkeit berechtigt ist, besonders gewichtige Gründe angegeben werden. Darüber hinaus leisteten Internetarchive einen erheblichen Beitrag zur Erhaltung und Bereitstellung von Nachrichten und Informationen und digitale Archive stellten eine wichtige Quelle für Bildung und historische Forschung dar. Die Bedeutung von Online-Nachrichtenarchiven wird unterstrichen sowie ihre Funktion, die Öffentlichkeit zu befähigen, etwas über zeitgenössische Geschichte zu erfahren, und es der Presse – durch dieselben Mittel – zu ermöglichen, ihre Aufgabe, zur demokratischen Meinungsbildung beizutragen, auszuführen. Und da der Zweck von Archiven darin bestehe, die dauerhafte Verfügbarkeit von Informationen zu gewährleisten, die zu einem bestimmten Zeitpunkt rechtmäßig veröffentlicht wurden, müssten Online-Archive im Allgemeinen authentisch, verlässlich und vollständig bleiben. Dementsprechend sollte die Integrität von digitalen Pressearchiven das Leitprinzip für die Untersuchung jeglicher Aufforderung zur Entfernung oder Änderung des gesamten oder eines Teils eines archivierten Artikels sein, der zur Bewahrung der Erinnerung beiträgt, insbesondere wenn, wie im vorliegenden Fall, die Rechtmäßigkeit des Artikels nie infrage gestellt wurde.

Auf der anderen Seite nimmt der EGMR Bezug auf die Entwicklung der Technik und der Kommunikationsmittel sowie die zunehmende Zahl an Fällen, in denen Personen versucht haben, ihre Interessen im Rahmen des sogenannten „Rechts auf Vergessenwerden“ als Teil ihres durch Artikel 8 der EMRK garantierten Rechts auf Privatleben und auf Schutz ihres guten Rufs zu schützen. Eine Einzelperson könne in der Tat ein legitimes Interesse daran haben, die Löschung oder Änderung von Informationen aus der Vergangenheit – oder die Einschränkung des Zugangs zu diesen – zu erwirken, die Einfluss auf die Art und Weise haben, in der sie in vielfältigen Kontexten wie etwa der Arbeitsplatzsuche und in Geschäftsbeziehungen gegenwärtig wahrgenommen wird. Es sei offenkundig, dass persönliche Informationen, die veröffentlicht werden und seit einiger Zeit im Internet verfügbar sind, weitreichende negative Auswirkungen darauf haben können, wie die betreffende Person in der Öffentlichkeit wahrgenommen wird, wobei auch die Gefahr weiterer schädlicher Auswirkungen besteht. Als konkretes Beispiel verweist der Gerichtshof auf seine Schlussfolgerungen im Fall Biancardi gegen Italien (IRIS 2022-1/15), in dem er feststellte, dass nicht nur Anbieter von Internet-Suchmaschinen, sondern auch Administratoren von Zeitungs- oder journalistischen Archiven, die über das Internet zugänglich sind, dazu verpflichtet werden können, Dokumente zu deindexieren, um ein Recht auf Vergessenwerden anzuwenden. Er stellt allerdings auch klar, dass ein Anspruch auf Vergessenwerden nicht einem durch die EMRK geschützten eigenständigen Recht gleichkommt und – soweit es durch Artikel 8 erfasst ist – nur bestimmte Situationen und Informationen betreffen kann. Darüber hinaus müsse ein Angriff auf den guten Ruf einer Person einen gewissen Schweregrad erreichen, damit Artikel 8 der EMRK zum Tragen kommt. Der Gerichtshof betont, dass er in jedem Fall bisher keine Maßnahme zur Entfernung oder Veränderung von Informationen unterstützt habe, die rechtmäßig zu journalistischen Zwecken veröffentlicht und auf der Website eines Nachrichtenmediums archiviert wurden.

Der EGMR erklärt zudem, dass sich der Begriff „Auslistung“ auf Maßnahmen beziehe, die von Suchmaschinenbetreibern ergriffen werden, und der Begriff „Deindexierung“ Maßnahmen bezeichne, die vom Nachrichten-Herausgeber getroffen werden, der für die Website verantwortlich ist, auf dem der betreffende Artikel archiviert ist. Die gegen Online-Inhalte ergriffenen Maßnahmen könnten die Entfernung, Veränderung oder Anonymisierung oder Beschränkungen des Zugangs zu den Informationen beinhalten. Überdies seien Betroffene nicht verpflichtet, zwecks Ausübung ihrer Rechte gegenüber Suchmaschinen entweder vorher oder gleichzeitig die ursprüngliche Website zu kontaktieren, da dies zwei verschiedene Verarbeitungsformen seien, von denen jede eigene Legitimitätsgrundlagen und unterschiedliche Auswirkungen auf die Rechte und Interessen des Einzelnen habe. Gleichfalls könne die Prüfung einer Maßnahme gegen einen Herausgeber einer Nachrichten-Website nicht von einer vorherigen Aufforderung zur Auslistung abhängig gemacht werden.

Die Große Kammer nimmt auch Bezug auf ihren allgemeinen Ansatz, gemäß dem die EMRK in einer Weise ausgelegt und angewandt wird, durch welche die in ihr enthaltenen Rechte zu praktischen und wirksamen werden, nicht theoretischen und illusorischen. Würde der EGMR nicht weiterhin einen dynamischen und evolutiven Ansatz verfolgen, berge dies die Gefahr, ihn zu einem Hindernis für Reformen oder Verbesserungen zu machen.

Die Kriterien und Schlussfolgerungen der Großen Kammer

Als Nächstes bestehe die Aufgabe des EGMR darin, zu ermitteln, ob der Anonymisierungsbeschluss gegen den Artikel im Nachrichtenarchiv von Le Soir unter den spezifischen Umständen des vorliegenden Falls auf zutreffenden und ausreichenden Gründen beruhte und insbesondere ob er in angemessenem Verhältnis zum verfolgten legitimen Ziel stand. Um diese Bewertung vorzunehmen und insbesondere die Notwendigkeit zu prüfen, die Integrität von Pressearchiven zu wahren, berücksichtigt der EGMR die folgenden Kriterien: (i) die Art der archivierten Information; (ii) die Zeit, die seit den Ereignissen und seit der ursprünglichen und der Online-Veröffentlichung verstrichen ist; (iii) das heutige Interesse an den Informationen; (iv) ob die Person, die Anspruch auf Vergessenwerden geltend macht, allgemein bekannt ist, sowie ihr Verhalten seit den Ereignissen; (v) die negativen Auswirkungen der dauerhaften Verfügbarkeit der Informationen im Internet; (vi) der Grad der Zugänglichkeit zu den Informationen in den digitalen Archiven und (vii) die Auswirkungen der Maßnahme auf die freie Meinungsäußerung und konkret auf die Pressefreiheit.

Vor der Anwendung dieser Kriterien bringt der EGMR sein Bewusstsein für die mögliche abschreckende Wirkung auf die Pressefreiheit im Zusammenhang mit der Verpflichtung eines Herausgebers zur Anonymisierung eines Artikels, der ursprünglich auf rechtmäßige Weise veröffentlicht wurde, zum Ausdruck, da eine derartige Verpflichtung die Gefahr mit sich bringe, dass die Presse in Zukunft möglicherweise davon Abstand nimmt, Berichte in ihren Online-Archiven zu speichern, oder dass sie individualisierte Elemente in Artikeln, die voraussichtlich Gegenstand einer derartigen Aufforderung sind, weglassen wird. Der EGMR betont indes auch, dass die Inhalteanbieter nur dann verpflichtet seien, die Interessen in Bezug auf die freie Meinungsäußerung und die Achtung des Privatlebens zu bewerten und gegeneinander abzuwägen, wenn die betreffende Person diesbezüglich einen ausdrücklichen Antrag stellt.

Nach Anwendung und Bewertung jedes der sieben Kriterien, die sie aufgestellt hat, gelangt die Große Kammer des Gerichtshofs zu der Schlussfolgerung, dass die belgischen Gerichte auf kohärente Weise die Art und Bedeutung der juristischen Sachverhalte, über die in dem betreffenden Artikel berichtet wurde, die Tatsache, dass der Artikel keine aktuelle, historische oder wissenschaftliche Bedeutung hatte, sowie die Tatsache, dass Doktor G. nicht allgemein bekannt war, berücksichtigten. Darüber hinaus hätten die belgischen Gerichte dem ernsthaften Schaden Bedeutung beigemessen, den Doktor G. infolge der dauerhaften Verfügbarkeit des Artikels im Internet mit uneingeschränktem Zugang erlitten hatte, die geeignet war, ein „virtuelles Strafregister“ zu schaffen, insbesondere in Anbetracht der langen Zeit, die seit der ursprünglichen Veröffentlichung des Artikels verstrichen war. Außerdem hätten die belgischen Gerichte nach Prüfung der Maßnahmen, die in Betracht gezogen werden könnten, um die betreffenden Rechte gegeneinander abzuwägen, festgestellt, dass die Anonymisierung des Artikels für den Beschwerdeführer keine übermäßige und nicht praktikable Belastung darstellt und gleichzeitig das wirksamste Mittel zum Schutz von Doktor G.s Privatleben ist. Deshalb gelangt der EGMR zur abschließenden Schlussfolgerung, dass der Eingriff in das durch Artikel 10 der EMRK garantierte Recht aufgrund der Anonymisierung der elektronischen Fassung des Artikels auf der Website der Zeitung Le Soir auf das unbedingt notwendige Maß beschränkt wurde und daher im vorliegenden Fall als in einer demokratischen Gesellschaft notwendig und verhältnismäßig angesehen werden kann. Er sieht folglich keine triftigen Gründe, um die Auffassung der innerstaatlichen Gerichte durch seine eigene zu ersetzen und das Ergebnis der durch diese vorgenommenen Abwägung zu missachten. Dementsprechend liegt kein Verstoß gegen Artikel 10 der EMRK vor.

Die Große Kammer erreichte allerdings bei dieser Feststellung keine Einstimmigkeit: 5 der 17 Richterinnen und Richter legen in einer abweichenden Meinung dar, warum der Schaden, auf den sich die in dem strittigen rechtmäßigen Artikel genannte Person beruft, nicht schwer genug ist, um eine Änderung der Online-Version des Zeitungsartikels zu rechtfertigen. Darin bringen sie insbesondere zum Ausdruck, dass die Änderung der Online-Fassung unverhältnismäßig sei, da die Auslistung des Artikels aus den Suchmaschinenergebnissen als weniger einschränkender Eingriff in das durch Artikel 10 der EMRK garantierte Recht auf freie Meinungsäußerung und Informationsfreiheit anzusehen sei. Sie führten auch die Gegenüberstellung des „Rechts auf Vergessenwerden“ und des „Rechts auf Erinnerung“ an.


Referenzen

  • Judgment by the European Court of Human Rights, Grand Chamber, in the case of Hurbain v. Belgium, Application no. 57292/16, 4 July 2023
  • https://hudoc.echr.coe.int/eng?i=001-225814
  • Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, Große Kammer, im Fall Hurbain gegen Belgien, Beschwerde Nr. 57292/16, 4. Juli 2023

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Dieser Artikel wurde in IRIS Rechtliche Rundschau der Europäischen Audiovisuellen Informationsstelle veröffentlicht.