Kroatien

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte: Kroatische Hörfunk- und Fernsehanstalt HRT gegen Kroatien

IRIS 2023-4:1/22

Dirk Voorhoof

Menschenrechtszentrum, Universität Gent und Legal Human Academy

Ein kürzlich ergangenes Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) hat bestätigt und geklärt, unter welchen Bedingungen eine öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalt redaktionelle Unabhängigkeit und institutionelle Autonomie besitzt und daher als nichtstaatliche Organisation vor dem EGMR Aktivlegitimation beanspruchen kann. Das Urteil offenbart eine bemerkenswerte Haltung der kroatischen Regierung zur Verteidigung eines Eingriffs in die Rechte der kroatischen öffentlich-rechtlichen Hörfunk- und Fernsehanstalt HRT. Die kroatische Regierung argumentierte, HRT habe als staatliche Einrichtung keine Klagebefugnis vor dem EGMR.

Der Fall betraf divergierende Entscheidungen kroatischer Gerichte in zwanzig Zivilverfahren wegen ungerechtfertigter Bereicherung, die HRT gegen verschiedene Personen eingeleitet hatte, denen ein HRT-Angestellter im Namen von HRT Honorare für Arbeiten gezahlt hatte, die sie nie ausgeführt hatten. HRT reichte beim EGMR eine Beschwerde dagegen ein, dass die innerstaatlichen Gerichte in den zwanzig fraglichen Zivilverfahren gegen HRT entschieden hatten. Der EGMR prüfte die Beschwerde gemäß Art. 6 Abs. 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), der jeder Person das Recht auf Zugang zu einem Gericht und auf ein faires Verfahren bei der Feststellung ihrer zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen einräumt. Der EGMR stellte jedoch keine Verletzung der Rechte von HRT nach Art. 6 Abs. 1 EMRK fest.

Neben diesem verfahrensrechtlichen Aspekt des Rechts auf ein faires Verfahren auf innerstaatlicher Ebene ging es in dem Urteil insbesondere um die Frage, ob eine öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalt als juristische Person nach Artikel 34 EMRK klagebefugt ist. Gemäß Artikel 34 EMRK kann der EGMR „von jeder natürlichen Person, nichtstaatlichen Organisation oder Personengruppe, die behauptet, durch eine der Hohen Vertragsparteien in einem der in dieser Konvention oder den Protokollen dazu anerkannten Rechte verletzt zu sein, mit einer Beschwerde befasst werden“. Nach der ständigen Rechtsprechung des EGMR kann eine juristische Person eine Individualbeschwerde beim EGMR einreichen, sofern es sich um eine „nichtstaatliche Organisation“ handelt. Der Begriff „staatliche Organisationen“ umfasst im Gegensatz zu „nichtstaatlichen Organisationen“ juristische Personen, die an der Ausübung von Regierungsgewalt beteiligt sind oder einen öffentlichen Dienst unter staatlicher Kontrolle betreiben. Solche staatlichen Organisationen haben nach der EMRK keine Klagebefugnis. Der Begriff „staatliche Organisationen“ bezieht sich nicht nur auf die zentralen Organe des Staates, sondern auch auf dezentrale Behörden, die „öffentliche Aufgaben“ wahrnehmen, unabhängig von ihrer Autonomie gegenüber den zentralen Organen. Um festzustellen, ob es sich bei einer juristischen Person um eine „staatliche Organisation“ oder eine „nichtstaatliche Organisation“ handelt, müssen ihr Rechtsstatus und gegebenenfalls die mit diesem Status verbundenen Rechte, die Art der von ihr ausgeübten Tätigkeit, der Kontext, in dem sie ausgeübt wird, sowie der Grad ihrer Unabhängigkeit von den politischen Behörden berücksichtigt werden. Der Begriff „staatliche Organisation“ umfasst somit unter anderem dem Staat gehörende Gesellschaften, die keine „ausreichende institutionelle und operative Unabhängigkeit vom Staat“ genießen.

Die kroatische Regierung machte vor dem EGMR geltend, dass HRT keine ausreichende institutionelle und operative Unabhängigkeit vom Staat genieße, um als nichtstaatliche Organisation im Sinne von Artikel 34 EMRK zu gelten. Daher habe HRT, so die Regierung, keine Aktivlegitimation, um eine Individualbeschwerde beim EGMR einzureichen. In Bezug auf seine Struktur wies die Regierung darauf hin, dass HRT eine öffentliche Einrichtung sei, deren einziger Gründer der Staat sei, und dass die Rechte des Gründers von der kroatischen Regierung wahrgenommen würden. Vierzehn der siebzehn Mitglieder des Verwaltungsrates und des Programmrates würden vom kroatischen Parlament ernannt und abberufen, das auch den Generaldirektor ernenne und abberufe. Darüber hinaus stünden die Tätigkeit von HRT und seine allgemeinen Rechtshandlungen unter der Aufsicht des Ministeriums für Kultur und Medien sowie des Rates für elektronische Medien. Die Haupteinnahmequelle von HRT sei nicht gesponserte Werbung, sondern fast ausschließlich staatliche Beihilfen und Zuweisungen aus dem Staatshaushalt: Mehr als 85 % seiner Finanzmittel stammten in den vergangenen Jahren aus öffentlichen Quellen, nämlich aus der verpflichtenden Rundfunkgebühr als einer Form der staatlichen Beihilfe und aus direkten Zuweisungen aus dem Staatshaushalt. Die Regierung machte ferner geltend, HRT sei nicht nur strukturell und finanziell vom Staat abhängig, sondern dies gelte auch weitgehend für seine Programmpolitik. HRT sei daher strukturell, finanziell oder in Bezug auf die von ihm produzierten Programme nicht ausreichend vom Staat getrennt, um als nichtstaatliche Organisation im Sinne von Artikel 34 EMRK zu gelten. Die Regierung forderte daher den EGMR auf, die Klage wegen mangelnder Aktivlegitimation für unzulässig zu erklären.

Der EGMR wies dieses Ansinnen der kroatischen Regierung jedoch zurück. Tatsächlich hatte der EGMR bisher immer entschieden, dass öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten wie die in Frankreich, der Schweiz, Österreich und Belgien über Aktivlegitimation verfügen, Individualbeschwerde einzureichen (siehe z. B. IRIS 2004-5/2; 2007-3/4; IRIS 2011-6/1; IRIS 2012-8/3; IRIS 2021-2/20 und 2023-2/17). Für den EGMR war entscheidend, ob der Gesetzgeber einen Rahmen geschaffen hat, der die redaktionelle Unabhängigkeit und die institutionelle Autonomie der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalt garantiert. In Bezug auf HRT vertrat der EGMR die Auffassung, dass er als juristische Person des öffentlichen Rechts als „nichtstaatliche Organisation“ angesehen werden könne, da er keine „Regierungsgewalt“ ausübe, nicht „zu öffentlichen Verwaltungszwecken“ gegründet worden sei und vom Staat unabhängig sei. Die elektronischen Medien in Kroatien, einschließlich HRT, seien durch das Mediengesetz und das Gesetz über elektronische Medien geregelt, die beide Bestimmungen zur Gewährleistung ihrer Unparteilichkeit und Unabhängigkeit enthalten. Darüber hinaus würden die kroatische Verfassung und das Mediengesetz die Freiheit der Medien garantieren, während das Gesetz über elektronische Medien das Recht auf vollständige Programmfreiheit der elektronischen Medien gewährleiste. Das bedeute, dass HRT im Rahmen der im kroatischen Hörfunk‑ und Fernsehgesetz festgelegten Anforderungen an einen öffentlich-rechtlichen Dienst nicht unter der Ägide des Staates stehe, sondern Medienfreiheit genieße und in seiner Tätigkeit unabhängig sei. Er sei unter der Kontrolle des Rates für elektronische Medien, einer unabhängigen Regulierungsbehörde tätig, die für die Überwachung der Anwendung des Gesetzes über elektronische Medien, einschließlich der Bestimmungen zur Gewährleistung der Unparteilichkeit und Unabhängigkeit der elektronischen Medien, zuständig sei. Der EGMR verwies auch auf die Tatsache, dass HRT kein Monopol für Fernseh- oder Hörfunksendungen habe und in einem wettbewerbsoffenen Sektor tätig sei. Selbst wenn eine öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalt bei der Finanzierung ihrer Tätigkeiten weitgehend von öffentlichen Mitteln abhängig sei, werde dies nicht als entscheidendes Kriterium angesehen, während die Tatsache, dass eine öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalt in einem wettbewerbsorientierten Umfeld angesiedelt sei, ein wichtiger Faktor sei.

Der EGMR kam zu dem Schluss, dass der kroatische Gesetzgeber einen Rahmen geschaffen habe, der die redaktionelle Unabhängigkeit und die institutionelle Autonomie von HRT gewährleiste, wenngleich HRT mit einem öffentlichen Auftrag betraut sei und zu einem erheblichen Teil vom Staat finanziert werde. Daher könne man nicht sagen, dass HRT unter „staatlicher Kontrolle“ stehe. Folglich könne HRT als „nichtstaatliche Organisation“ im Sinne von Artikel 34 EMRK betrachtet werden und sei daher berechtigt, beim EGMR eine Individualbeschwerde wegen mutmaßlicher Verletzung seiner Rechte auf ein faires Verfahren gemäß Art. 6 Abs. 1 einzureichen.


Referenzen

  • Judgment by the European Court of Human Rights, First Section, Croatian Radio-Television v. Croatia, Applications nos. 52132/19 and 19 others, 2 March 2023
  • https://hudoc.echr.coe.int/eng?i=001-223302
  • Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, Erste Sektion, Kroatische Hörfunk- und Fernsehanstalt HRT gegen Kroatien, Beschwerden Nr. 52132/19 und 19 weitere, 2. März 2023

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Dieser Artikel wurde in IRIS Rechtliche Rundschau der Europäischen Audiovisuellen Informationsstelle veröffentlicht.