Island

EGMR: Carl Jóhann Lilliendahl gegen Island

IRIS 2020-8:1/9

Dirk Voorhoof

Menschenrechtszentrum, Universität Gent und Legal Human Academy

In einer hochaktuellen Entscheidung zu Hassreden stellte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) fest, dass das in Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) garantierte Recht auf freie Meinungsäußerung und Informationsfreiheit eingeschränkt werden kann, wenn es notwendig ist, das Recht homosexueller Personen zu schützen, unabhängig von ihrer sexuellen Orientierung im gleichen Maße wie andere ihre Menschenrechte wahrzunehmen (siehe auch Beizaras und Levickas gegen Litauen, IRIS 2020-3:1/21). Er stellte fest, dass eine strafrechtliche Verurteilung in Island wegen Hassreden gegen Homosexuelle, die über das Internet geäußert wurden, keinen Verstoß gegen Artikel 10 EMRK darstellte.

Als Antwort auf einen Online-Nachrichtenartikel über LGBT-Erziehung und -Beratung in Grund- und weiterführenden Schulen machte der Beschwerdeführer in diesem Fall, Carl Jóhann Lilliendahl, eine Reihe negativer Aussagen über Homosexuelle und Homosexualität, wobei er von „sexueller Abweichung“ und Kopulation von Tieren sprach. Er bezeichnete den Plan, Erziehung und Beratung zu Homosexualität in Schulen einzuführen, als „ekelhaft“. Lilliendahl wurde wegen öffentlicher Bedrohung, Verspottung, Diffamierung und Verunglimpfung einer Gruppe von Personen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung und geschlechtlichen Identität unter Verstoß gegen Artikel 233 (a) des Allgemeinen Strafgesetzbuches strafrechtlich zur Verantwortung gezogen. Nachdem er zunächst vom Bezirksgericht Reykjavík freigesprochen worden war, wurde Lilliendahl vom Obersten Gerichtshof Islands verurteilt. Der Oberste Gerichtshof begründete dies damit, dass die in Artikel 233 (a) festgelegte Einschränkung eindeutig notwendig sei, um die Rechte sozialer Gruppen zu schützen, die in der Vergangenheit diskriminiert wurden. Darüber hinaus sei der Schutz, der solchen Gruppen durch Artikel 233 (a) gewährt werde, mit der nationalen demokratischen Tradition vereinbar, die sich in der isländischen Verfassung widerspiegele, Personen nicht aufgrund ihrer persönlichen Eigenschaften oder Elemente ihres Privatlebens zu diskriminieren, und es stehe im Einklang mit internationalen Rechtsinstrumenten und Erklärungen, solche Gruppen durch Strafbewehrung vor Diskriminierung zu schützen. Nach Ansicht des Obersten Gerichtshofs stellten Lilliendahls öffentliche Äußerungen eine „abträglicheVerleumdung und Herabsetzung“ Homosexueller dar. Lilliendahl wurde zu einer Geldstrafe von ISK 100.000 (EUR 800) verurteilt, wobei sein Alter und seine strafrechtliche Unbescholtenheit berücksichtigt wurden.

Lilliendahl beschwerte sich nach Artikel 10 EMRK, seine Verurteilung habe sein Recht auf freie Meinungsäußerung verletzt. Darüber hinaus beanstandete er gemäß der Nichtdiskriminierungsbestimmung des Artikels 14 EMRK in Verbindung mit Artikel 10 EMRK, dass er nicht im gleichen Maße Meinungsfreiheit genieße wie Personen mit anderen Meinungen. Zu Beginn musste der EGMR prüfen, ob die so genannte Missbrauchsklausel von Artikel 17 EMRK anwendbar ist. Dieser Artikel besagt: „Diese Konvention ist nicht so auszulegen, als begründe sie für einen Staat, eine Gruppe oder eine Person das Recht, eine Tätigkeit auszuüben oder eine Handlung vorzunehmen, die darauf abzielt, die in der Konvention festgelegten Rechte und Freiheiten abzuschaffen oder sie stärker einzuschränken, als es in der Konvention vorgesehen ist.“ Gegebenenfalls hätte Artikel 17 zur Folge, dass die Ausübung des Konventionsrechts, die Lilliendahl im Verfahren vor dem EGMR zu rechtfertigen versuchte, negiert würde. Wie die Große Kammer des EGMR in Perinçek gegen die Schweiz (IRIS 2016-1/1) feststellte, ist Artikel 17 nur ausnahmsweise und in extremen Fällen anwendbar. In Fällen, die Artikel 10 der Konvention betreffen, sollte nur dann darauf zurückgegriffen werden, „wenn unmittelbar erkennbar ist, dass die streitigen Erklärungen darauf gerichtet waren, diesen Artikel von seinem eigentlichen Zweck abzubringen, indem das Recht auf freie Meinungsäußerung für Zwecke genutzt wird, die den Werten der Konvention eindeutig zuwiderlaufen.“ Der EGMR befand die streitigen Aussagen für höchst abträglich, war jedoch der Ansicht, dass nicht unmittelbar erkennbar war, dass sie darauf abzielten, zu Gewalt und Hass anzustiften oder die durch die EMRK geschützten Rechte und Freiheiten zu verletzen. Daher war es Lilliendahl in diesem Fall nicht verwehrt, sich auf sein Recht auf freie Meinungsäußerung zu berufen. Was noch zu entscheiden blieb, war, ob seine Verurteilung mit Artikel 10 EMRK in Einklang stand, und insbesondere, ob sie als in einer demokratischen Gesellschaft notwendig gerechtfertigt werden konnte.

Der EGMR bekräftigte sein Standardprinzip in Bezug auf Artikel 10 EMRK und stellte fest, dass „die Meinungsfreiheit eine der wesentlichen Grundlagen einer demokratischen Gesellschaft und eine der Grundvoraussetzungen für ihren Fortschritt und für die Selbstverwirklichung jedes Einzelnen darstellt. Vorbehaltlich des Artikels 10 Absatz 2 gilt sie nicht nur für ‚Informationen‘ oder ‚Ideen‘, die wohlwollend aufgenommen oder als harmlos oder gleichgültig betrachtet werden, sondern auch für solche, die beleidigen, schockieren oder verstören. Dies gebieten Pluralismus, Toleranz und Aufgeschlossenheit, ohne die es keine ‚demokratische Gesellschaft‘“ gibt.“ Der EGMR betrachtete Lilliendahls Äußerungen jedoch als eine Form der Hassrede, da dies nicht nur Äußerungen einschließe, die ausdrücklich zu Gewalt oder anderen kriminellen Handlungen aufrufen, sondern auch Angriffe auf Personen in Form von Beleidigung, Verspottung oder Verleumdung bestimmter Bevölkerungsgruppen umfassen könne (siehe auch Féret gegen Belgien, Iris 2009-8/1, Vejdeland gegen Schweden, Iris 2010-5/2 und Beizaras und Levickas gegen Litauen, IRIS 2020-3/21). Wenngleich Lilliendahls Bemerkungen nicht auf einer prominenten Internetplattform geäußert wurden und nicht speziell gegen schutzbedürftige Gruppen oder Personen gerichtet waren, bestätigte der EGMR die Feststellung des isländischen Obersten Gerichtshofs, dass sie „schwerwiegend, ernsthaft verletzend und abträglich“ waren, und erinnerte auch daran, dass Diskriminierung aufgrund der sexuellen Ausrichtung ebenso schwerwiegend ist wie Diskriminierung aufgrund von Rasse, Herkunft oder Hautfarbe. Der EGMR verwies auf die Empfehlung des Ministerkomitees von 2010 und die Entschließung der Parlamentarischen Versammlung des Europarates zur Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung und der geschlechtlichen Identität, in der der Schutz von geschlechtlichen und sexuellen Minderheiten vor hasserfüllten und diskriminierenden Äußerungen gefordert und auf die Marginalisierung und Viktimisierung verwiesen wird, der sie in der Vergangenheit ausgesetzt waren und auch weiterhin sind. Unter Berücksichtigung des abträglichen und intoleranten Charakters von Lilliendahls Äußerungen stellte der EGMR fest, dass der isländische Oberste Gerichtshof maßgebliche und ausreichende Gründe für seine Verurteilung angeführt habe: Der Oberste Gerichtshof habe die in der geltenden Rechtsprechung des EGMR festgelegten Kriterien berücksichtigt und innerhalb seines Ermessensspielraums gehandelt. Darüber hinaus stellte der EGMR fest, dass Lilliendahl nicht zu einer Haftstrafe verurteilt wurde, obwohl für die Straftat, derentwegen er belangt wurde, bis zu zwei Jahre Freiheitsentzug verhängt werden kann. Er hielt die Geldbuße von 800 EUR angesichts der Umstände nicht für übertrieben. Der EGMR kam zu dem Schluss, dass die Bewertung der Art und Schwere von Lilliendahls Äußerungen durch den Obersten Gerichtshof nicht offenkundig unangemessen war und dass er die persönlichen Interessen und das Recht Lilliendahls auf freie Meinungsäußerung gegen das allgemeinere öffentliche Interesse an dem Fall, der die Rechte von geschlechtlichen und sexuellen Minderheiten betrifft, angemessen abgewogen hat. Daher befand der EGMR Lilliendahls Beschwerde nach Artikel 10, auch in Verbindung mit Artikel 14 EMRK, für offensichtlich unbegründet. Der EGMR entschied einstimmig, die Beschwerde als unzulässig abzuweisen.


Referenzen

  • Decision by the European Court of Human Rights, Second Section, in the case of Carl Jóhann Lilliendahl v. Iceland, Application No. 29297/18, 11 June 2020
  • http://hudoc.echr.coe.int/eng?i=001-203199
  • Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, Zweite Sektion, in der Rechtssache Carl Jóhann Lilliendahl gegen Island, Beschwerde Nr. 29297/18, 11. Juni 2020

Verknüpfte Artikel

IRIS 2009-9:1/1 Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte: Rechtssache Wojtas-Kaleta gegen Polen

IRIS 2016-1:1/1 Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte: Perinçek gegen Schweiz

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Dieser Artikel wurde in IRIS Rechtliche Rundschau der Europäischen Audiovisuellen Informationsstelle veröffentlicht.