Estland

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte: Kalda gegen Estland

IRIS 2016-4:1/2

Dirk Voorhoof

Menschenrechtszentrum, Universität Gent und Legal Human Academy

Zum ersten Mal erklärte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), dass die Weigerung, einem Gefangenen Zugang zum Internet zu gewähren, einen Verstoß gegen Artikel 10 der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte (EMRK) darstellen könne. In Estland verlangte Kalda, der eine lebenslange Freiheitsstrafe verbüßt, vom Gefängnisdirektor Zugang zur Online-Ausgabe des Staatsanzeigers, zu den Beschlüssen des Obersten Gerichtshofs und der Verwaltungsgerichte sowie zur HUDOC-Datenbank des EGMR. Der Direktor wies diese Anfrage zurück, gleichermaßen entschieden das Verwaltungsgericht und das Berufungsgericht Tallin. Der Oberste Gerichtshof entschied jedoch, dass die Ablehnung der Gefängnisverwaltung, Gefangenen Zugang zu den Urteilen der Verwaltungsgerichte und des EGMR zu gewähren, einen Eingriff in deren Recht auf freien Zugang zu Informationen, die zur öffentlichen Nutzung verbreitet werden, darstelle und befand die Ablehnung für rechtswidrig. Etwas später stellte Kalda einen neuen Antrag, in dem er um Zugang zu den Internet-Sites www.coe.ee des Informationsbüros des Europarats in Tallin, www.oiguskantsler.ee, der Website des Justizkanzlers sowie zu www.riigikogu.ee, der Website des estnischen Parlaments bat. Er machte geltend, er stehe in mehreren Rechtsstreitigkeiten mit der Gefängnisverwaltung und benötige Zugang zu jenen Internet-Sites, um seine Rechte vor Gericht wahren zu können. Kaldas Antrag wurde erneut abgewiesen. Der Oberste Gerichtshof kam dieses Mal zu dem Schluss, das Verbot des Zugangs zu den drei fraglichen Internet-Sites für die Gefangenen sei notwendig, um die Ziele der Inhaftierung zu erreichen und insbesondere gerechtfertigt, um die öffentliche Sicherheit zu gewährleisten. Kalda stellte einen Antrag beim EGMR mit der Klage, die Ablehnung der estnischen Behörden, ihm Zugang zu bestimmten Websites zu gewähren, verletze sein Recht, Informationen „ohne behördliche Eingriffe“ zu empfangen, und verstoße gegen Artikel 10 EMRK.

In seinem Urteil vom 19. Januar 2016 wiederholte der Europäische Gerichtshof, dass das Recht auf Information  es einem Staat grundsätzlich verbiete, eine Person vom Empfang von Informationen auszuschließen, die von offiziellen Stellen  veröffentlicht werden. Angesichts seiner Verfügbarkeit und seiner Möglichkeit, enorme Datenmengen zu speichern und zu übermitteln, spiele das Internet eine wichtige Rolle bei der Förderung des öffentlichen Zugangs zu Nachrichten und bei der leichteren Verbreitung von Informationen im Allgemeinen. Da Inhaftierung jedoch unweigerlich eine Reihe von Einschränkungen für die Kommunikation von Gefangenen mit der Außenwelt, unter anderem für ihre Möglichkeit, Informationen zu empfangen, mit sich bringe, könne Artikel 10 der Konvention nicht als generelle Verpflichtung ausgelegt werden, Gefangenen Zugang zum Internet oder zu speziellen Internet-Sites bereitzustellen. Da der Zugang zu bestimmten Sites mit rechtlichen Informationen nach estnischem Recht gewährt werde, stelle die Einschränkung des Zugangs zu anderen Sites, welche ebenfalls rechtliche Informationen enthalten, dessen ungeachtet einen Eingriff in das Recht auf den Empfang von Informationen dar. Der Gerichtshof musste daher prüfen, ob dieser Eingriff den Bedingungen von Artikel 10 Absatz 2 der Konvention entspricht. Da unstrittig war, dass der Eingriff in Kaldas Recht auf den Empfang von Informationen durch das Inhaftierungsgesetz vorgesehen war und das legitime Ziel des Schutzes der Rechte Dritter und der Verhinderung von Unruhe und Straftaten verfolgt, bestand die Frage letztlich darin, ob die Verweigerung des Zugangs zu den Websites in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war.

Der Gerichtshof merkte an, die Websites, zu denen Kalda Zugang wünschte, enthielten überwiegend rechtliche Informationen sowie Informationen zu Grundrechten, unter anderem zu den Rechten von Gefangenen. Die Zugänglichkeit solcher Informationen fördere das öffentliche Bewusstsein und die Achtung der Menschenrechte und bekräftige die Argumentation Kaldas, die estnischen Gerichte würden solche Informationen nutzen und er benötige Zugang dazu, um seine Rechte in den Gerichtsverfahren zu wahren. Der Gerichtshof wies auf die Tatsache hin, dass in einer Reihe von Instrumenten des Europarats und weiteren internationalen Instrumenten der öffentlich-rechtliche Wert des Internets sowie dessen Bedeutung für die Wahrnehmung unterschiedlicher Menschenrechte anerkannt wurden. Mit Verweis auf die Erklärung des Ministerkomitees des Europarats zur Kommunikationsfreiheit im Internet von 2003 (siehe IRIS 2003-7/3) und den Bericht des UN-Sonderberichterstatters an den Menschenrechtsrat (A/HRC/17/27) zur Förderung und zum Schutz des Rechts auf Meinungsfreiheit und freie Meinungsäußerung (siehe auch IRIS 2011-8/2) befand der Gerichtshof, Internet-Zugang werde zunehmend als Recht verstanden, und es sei dazu aufgerufen worden, effektive Strategien zu entwickeln, um allgemeinen Zugang zum Internet zu erreichen und die „digitale Kluft“ zu überwinden. Der Gerichtshof war der Auffassung, diese Entwicklungen spiegelten die wichtige Rolle wider, die das Internet im täglichen Leben der Menschen spiele, da ein zunehmender Prozentsatz an Diensten und Informationen nur im Internet verfügbar sei.

Schließlich gibt der Gerichtshof zu bedenken, dass nach dem Inhaftierungsgesetz Gefangenen in Estland eingeschränkter Zugang zum Internet über speziell für diesen Zweck eingerichtete Computer und unter Aufsicht der Gefängnisbehörden gewährt worden sei. Die notwendigen Vorkehrungen für die Nutzung des Internets durch Gefangene seien also jeweils getroffen und die entsprechenden Kosten von den Behörden übernommen worden. Wenngleich die sicherheitstechnischen und wirtschaftlichen Überlegungen, die von den nationalen Behörden angeführt wurden, als maßgeblich betrachtet werden könnten, bemerkte der Gerichtshof, die nationalen Gerichte hätten keine detaillierte Analyse hinsichtlich der Sicherheitsrisiken, die mutmaßlich aus dem Zugang zu den drei zusätzlichen fraglichen Websites erwachsen, vorgenommen, auch unter Berücksichtigung der Tatsache, dass es sich um Websites von staatlichen Behörden und einer internationalen Organisation handelt. Der Gerichtshof berücksichtigte zudem, dass die estnischen Gerichte nicht überzeugend nachweisen konnten, dass ein Zugang für Kalda zu drei zusätzlichen Websites irgendwelche nennenswerten zusätzlichen Kosten verursacht hätte. Unter diesen Umständen ist der Gerichtshof nicht davon überzeugt, dass im vorliegenden Fall ausreichende Gründe vorgebracht wurden, um den Eingriff in Kaldas Recht auf den Empfang von Informationen zu rechtfertigen. Der Gerichtshof kam mit sechs zu einer Stimme zu dem Schluss, der Eingriff in Kaldas Recht auf den Empfang von Informationen könne unter den speziellen Umständen der vorliegenden Rechtssache nicht als in einer demokratischen Gesellschaft notwendig betrachtet werden. Folglich stellte er einen Verstoß gegen Artikel 10 EMRK fest.

In seiner abweichenden Stellungnahme befand der dänische Richter Kjølbro, es liege kein Verstoß gegen Artikel 10 vor und Kaldas Antrag hätte abgewiesen werden müssen. Er argumentiert zudem, dass die Frage nach dem Recht von Gefangenen auf Internetzugang ein neuartiges Thema in der geltenden Rechtsprechung des Gerichtshofs sei und dass angesichts der generellen Bedeutung des Internetzugangs für Gefangene wie auch der praktischen und finanziellen Implikationen der Gewährung von Internetzugang für Gefangene die Frage nicht hätte von einer Kammer sondern von der Großen Kammer entschieden werden müssen. Zwischenzeitlich hat die estnische Regierung eine Anfrage für eine Überweisung an die Große Kammer in dieser Rechtssache angekündigt.


Referenzen

  • Judgment of the European Court of Human Rights, Second Section, case Kalda v. Estonia, Application no. 17429/10 of 19 January 2016
  • https://hudoc.echr.coe.int/eng?i=001-160270
  • Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (Zweite Sektion), Rechtssache Kalda gegen Estland, Antrag Nr. 17429/10 vom 19. Januar 2016

Verknüpfte Artikel

IRIS 2011-8:1/2 OSZE: Gemeinsame Erklärung der vier internationalen Sonderberichterstatter für den Schutz der freien Meinungsäußerung vom Juni 2011

IRIS 2003-7:1/3 Ministerkomitee: Erklärung zur Kommunikationsfreiheit im Internet

Dieser Artikel wurde in IRIS Rechtliche Rundschau der Europäischen Audiovisuellen Informationsstelle veröffentlicht.