OSZE: Gemeinsame Erklärung der vier internationalen Sonderberichterstatter für den Schutz der freien Meinungsäußerung vom Juni 2011
IRIS 2011-8:1/2
Toby Mendel
Centre for Law and Democracy
Am 1. Juni 2011 haben die vier Sonderbeauftragten zwischenstaatlicher Organisationen für den Schutz der Meinungsfreiheit, der UN-Sonderberichterstatter für freie Meinungsäußerung, die OSZE-Vertreterin für Medienfreiheit, die OAS-Sonderberichterstatterin für freie Meinungsäußerung und die Sonderberichterstatterin für freie Meinungsäußerung und Informationszugang der Afrikanischen Kommission der Menschenrechte und der Rechte der Völker (ACHPR) eine gemeinsame Erklärung verabschiedet. Die Erklärung wurde mit Unterstützung des Centre for Law and Democracy (Zentrum für Recht und Demokratie) und ARTICLE 19 verabschiedet (zu früheren gemeinsamen Erklärungen siehe IRIS 2010-5/1, IRIS 2009-9/101, IRIS 2009-2/101, IRIS 2008-4/1, IRIS 2007-2/101, IRIS 2006-3/2, IRIS 2005-2/1 und IRIS 2004-2/12).
Einige der Sonderbeauftragten konzentrieren sich in den letzten Jahren stark auf das Internet, dem daher auch die Erklärung von 2011 gewidmet ist. Die OSZE-Vertreterin hat unter dem Titel „Meinungsfreiheit im Internet“ gerade eine große Umfrage zu Recht und Praxis der teilnehmenden Staaten in Bezug auf das Internet in Auftrag gegeben. Das Internet war auch Hauptthema des Jahresberichts 2011 des UN-Sonderberichterstatters an den Menschenrechtsrat.
Die Präambel der gemeinsamen Erklärung hebt sowohl den beispiellosen Einfluss des Internets bei der Umsetzung der freien Meinungsäußerung als auch die wachsenden Bedrohungen für die Freiheit des Internets hervor. Sie verweist auf die „transformative Natur“ des Internets für Menschen in allen Ländern der Welt. Einerseits verleihe es ihnen eine Stimme, andererseits eröffne es ihnen den Zugang zu Informationen. Noch immer hätten aber Milliarden von Menschen keinen guten oder überhaupt keinen Zugang zum Internet. Darüber hinaus hätten viele Staaten aktiv versucht, Internetinhalte zu kontrollieren, und andere hätten, teils sogar in gutem Glauben, die Freiheit des Internets extrem eingeschränkt. Einige Staaten hätten versucht, die „Verantwortung“ für die Überwachung des Internets an das immer breiter werdende Spektrum von Vermittlern zu „delegieren“, die Internetdienste anbieten.
Der Hauptteil der gemeinsamen Erklärung ist in sechs Abschnitte unterteilt: Allgemeine Prinzipien, Haftung von Vermittlern, Filterung und Sperrung, straf- und zivilrechtliche Haftung, Netzneutralität und Zugang zum Internet. Der erste Abschnitt enthält recht offensichtliche Aussagen: Meinungsfreiheit gelte auch im Internet, für andere Technologien konzipierte Regulierungssysteme könnten nicht einfach auf das Internet übertragen werden, Selbstregulierung könne ein wirksames Mittel gegen schädliche Äußerungen im Internet sein, und Sensibilisierung sei wichtig. Es ruft dazu auf, der Entwicklung „alternativer, maßgeschneiderter Ansätze“ für das Internet mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Es erkennt vor allem die systemische Eigenschaft des Internets an und fordert, dass Bewertungen der Verhältnismäßigkeit von Einschränkungen die generelle Fähigkeit des Internets berücksichtigen, „positive Ergebnisse der Meinungsfreiheit“ zu erzielen.
Die gemeinsame Erklärung legt hohe Maßstäbe an den Schutz vor der Vermittlerhaftung an. Sie fordert für diejenigen, die lediglich technische Internetdienste bereitstellen und nicht in Inhalte eingreifen oder gerichtlich zu deren Entfernung verurteilt wurden, absoluten Schutz vor der Haftung für Inhalte, die von Dritten produziert wurden. Ferner empfiehlt sie auch die Gleichbehandlung aller Vermittler. Zumindest sollten Vermittler nicht zur Überwachung nutzergenerierter Inhalte verpflichtet oder (wie bei den meisten derzeit geltendenInformations- und Entfernungs-Systemen, "notice and take down systems") Regelungen zur außergerichtlichen Entfernung von Inhalten unterworfen sein.
Abschnitt drei der Erklärung schließt obligatorische Sperren aus; eine Ausnahme bilden Extremfälle, etwa zum Schutz von Kindern vor sexuellem Missbrauch. Ebenso schließt er Filtersysteme aus, die Nutzern auferlegt werden. Bei ihnen handele es sich um eine Form von Vorabzensur. Benötigt würden strenge Transparenzvorschriften für Produkte, die die vom Endnutzer kontrollierte Filterung erleichtern sollen.
Zur straf- und zivilrechtlichen Haftung fordert die gemeinsame Erklärung einen Test zur Feststellung einer „tatsächlichen und wesentlichen Verbindung“ und das Vorliegen eines „substantiellen Schadens“, bevor die Justiz eingreifen kann. Verjährungsfristen sollten mit dem erstmaligen Hochladen des Inhalts beginnen, und für den betreffenden Inhalt solle nur eine einzige Schadenersatzklage zulässig sein ("single publication rule"). Auch hier unterstreicht die Erklärung die Notwendigkeit, nicht nur auf das öffentliche Interesse an dem konkreten Inhalt abzustellen, sondern auch auf das Interesse der breiteren Öffentlichkeit am Schutz des Forums, in dem der Inhalt veröffentlicht wurde.
Die Erklärung schließt Diskriminierung bei der Regelung des Internetverkehrs aus (Netzneutralität) und fordert Transparenz für alle Informationsverwaltungspraktiken von Vermittlern.
Schließlich hebt die Erklärung hervor, dass Staaten im Rahmen ihrer allgemeinen Verpflichtung zur Förderung der Meinungsfreiheit verpflichtet seien, den universellen Zugang zum Internet zu fördern. Die Abschaltung des Internetzugangs, wie Anfang dieses Jahres in Ägypten erfolgt, sei daher absolut ausgeschlossen, und es könne nur in extremsten Fällen und mit gerichtlicher Anordnung rechtmäßig sein, Menschen das Recht auf Zugang zum Internet zu verweigern. Auf der positiven Seite fordert die Erklärung die Staaten auf, mehrjährige Aktionspläne zu verabschieden, um den Zugang zum Internet zu fördern, und hierfür eine Reihe konkreter Maßnahmen in Betracht zu ziehen, etwa den Aufbau kommunaler IKT-Zentren und die Verhängung von Universaldienstanforderungen, die Diensteanbietern auferlegt werden.
Referenzen
- Joint Declaration on Freedom of Expression and the Internet by the United Nations (UN) Special Rapporteur on Freedom of Opinion and Expression, the Organization for Security and Cooperation in Europe (OSCE) Representative on Freedom of the Media, the Organization of American States (OAS) Special Rapporteur on Freedom of Expression and the African Commission on Human and Peoples’ Rights (ACHPR) Special Rapporteur on Freedom of Expression and Access to Information, 1 June 2011
- http://www.law-democracy.org/?p=842
- Gemeinsame Erklärung zur freien Meinungsäußerung und dem Internet vom Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen (UN) für freie Meinungsäußerung, der Vertreterin für Medienfreiheit der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), der Sonderberichterstatterin für freie Meinungsäußerung der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) und der Sonderberichterstatterin für freie Meinungsäußerung und Informationszugang der Afrikanischen Kommission der Menschenrechte und der Rechte der Völker (ACHPR), 1. Juni 2011
Verknüpfte Artikel
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Dieser Artikel wurde in IRIS Rechtliche Rundschau der Europäischen Audiovisuellen Informationsstelle veröffentlicht.