Armenien

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte: Oganesowa gegen Armenien

IRIS 2022-7:1/24

Dirk Voorhoof

Menschenrechtszentrum, Universität Gent und Legal Human Academy

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat ein Urteil zu Verstößen gegen die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) aufgrund von mangelndem Schutz vor Hassrede erlassen (siehe auch IRIS 2020-3/21 Beizaras und Levickas gegen Litauen). Der EGMR stellte einen Verstoß gegen das Verbot der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung und der Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung fest, da die armenischen Behörden eine LGBT-Aktivistin nicht vor einem homophoben Brandanschlag und Hassrede im Internet geschützt haben. Die Behörden hätten es außerdem versäumt, eine wirksame Untersuchung durchzuführen, um die für die homophobe Hassrede Verantwortlichen zu identifizieren.

Die Beschwerdeführerin war im vorliegenden Fall Armine Oganesowa, ein bekanntes Mitglied der lesbischen, schwulen, bisexuellen und Transgender-(LGBT-)Gemeinschaft in Armenien. Sie war an der Förderung der Rechte von LGBT-Personen in Armenien und international beteiligt und hatte zu verschiedenen Gelegenheiten die Menschenrechtslage in Armenien kritisiert. Oganesowa war außerdem Miteigentümerin und Geschäftsführerin einer Bar im Zentrum von Jerewan, einem Ort, an dem sich Mitglieder der LGBT-Gemeinschaft trafen, um Kontakte zu knüpfen.

Im August 2011 wurde in einem armenischen Fernsehsender ein Interview mit Oganesowa ausgestrahlt, in dem sie über ihre Teilnahme an einem Gay-Pride-Marsch in Istanbul sprach. Nachdem das Interview ausgestrahlt worden war, wurde sie zum Opfer einer Hasskampagne im Internet, von Einschüchterungen und Drohungen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung. Bei zwei Gelegenheiten trieb sich eine Gruppe von Personen rund um Oganesowas Bar herum und belästigte die im Club versammelten Menschen und schüchterte sie ein. Ein paar Tage später wurde ein Brandanschlag auf den Club verübt. Der Brand wurde von der Feuerwehr gelöscht, doch das Innere des Clubs war schwer beschädigt. Auf Facebook wurde eine Online-Gruppe mit dem Namen „Nein zu Homosexualität“ gegründet und es wurden Bilder von Oganesowa und verschiedenen Aktivistinnen und Aktivisten für LGBT-Rechte ins Internet gestellt. Eine Flut von beleidigenden und bedrohlichen Botschaften gegen Mitglieder der LGBT-Gemeinschaft wurde gepostet. Als Reaktion darauf gab Oganesowa ein Fernsehinterview, in dem sie den Brandanschlag und die homophobe Einstellung gegenüber der LGBT-Gemeinschaft diskutierte. Nach dem Interview wurde hauptsächlich auf Facebook und YouTube eine beträchtliche Anzahl von an sie persönlich gerichteten Drohungen und homophoben Kommentaren gepostet. Besonders die Postings auf Facebook umfassten Kommentare, dass die Beschwerdeführerin „sterben sollte“, „verbrannt werden sollte“ oder „in einen elektrischen Stuhl gesetzt“ werden sollte. Die auf YouTube unter einem den Brandanschlag betreffenden Video geposteten Kommentare enthielten schwer beleidigende Sprache und es wurde erklärt, LGBT-Personen „sollten die Stadt verlassen, Armenien ist für Armenier, nicht Schlampen“. Oganesowa wurde in den darauffolgenden Tagen weiter schikaniert und sie war Opfer homophober Beleidigungen und Bedrohungen im Internet. Sie legte der Polizei von verschiedenen Websites ausgedrucktes Material vor, das die einschlägigen homophoben Kommentare enthielt, und ersuchte darum, dass die notwendigen Maßnahmen zur Identifizierung der Urheber des Brandanschlags und der Urheber der Hassrede im Internet ergriffen werden. Allerdings wurde abgesehen von der strafrechtlichen Verfolgung (ohne letztendliche Strafe) zweier Personen, die für den Brandanschlag verantwortlich waren, keine strafrechtliche Ermittlung eingeleitet, um die Urheber der homophoben Hassrede im Internet zu identifizieren und strafrechtlich zu verfolgen. Die Hassverbrechen gegen Oganesowa und die LGBT-Gemeinschaft wurden im Gegenteil von einigen Politikern und Abgeordneten offen gebilligt, während auch einige Polizeibeamte die Motive der Täter für die Hassverbrechen zu unterstützen schienen. Im Juni 2012 wanderte Oganesowa von Armenien nach Schweden aus. Sie beantragte auf der Grundlage von Verfolgung wegen ihrer sexuellen Orientierung Asyl. Grund für ihre Entscheidung, Armenien zu verlassen, waren die fortwährenden Drohungen, die sie im Internet erhielt, in Verbindung mit dem mangelnden Schutz, den sie durch die Behörden erfahren hatte.

Vor dem EGMR beschwerte sich Oganesowa im Rahmen von Artikel 3 (Verbot von unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung), 8 (Recht auf Privatleben), 13 (Recht auf wirksame Beschwerde) und 14 der EMRK (Diskriminierungsverbot), dass die staatlichen Behörden sie nicht vor durch Vorurteile gegenüber Homosexuellen motivierten Angriffen und Beleidigungen durch Privatpersonen geschützt und die Hassverbrechen nicht wirksam untersucht hätten, einschließlich der Beleidigungen und Erniedrigungen, deren Opfer sie war. Sie beschwerte sich im Rahmen derselben Bestimmungen außerdem über das Fehlen eines angemessenen Rechtsrahmens zur Bekämpfung von gegen die LGBT-Minderheit gerichteten Hassverbrechen.

Der EGMR bekräftigte zunächst erneut, dass eine Behandlung, die eine Einzelperson entweder in den Augen anderer oder in jenen des Opfers demütigt oder herabwürdigt, die Achtung vor seiner oder ihrer Menschenwürde vermissen lässt oder diese herabmindert oder Gefühle von Furcht, Angst oder Minderwertigkeit hervorruft, die geeignet sind, den moralischen und physischen Widerstand einer Einzelperson zu brechen, als erniedrigend bezeichnet werden und auch unter das in Artikel 3 der EMRK festgelegte Verbot fallen kann. Der EGMR stellte des Weiteren fest, dass das Ziel der Angriffe, darunter der Brandanschlag und die Hassrede im Internet, offenkundig darin bestand, Oganesowa einzuschüchtern, sodass sie von ihrer öffentlichen Bekundung der Unterstützung der LGBT-Gemeinschaft ablassen würde. Ihre emotionale Belastung müsse durch die Tatsache, dass die Polizei nicht angemessen und rechtzeitig reagiert habe, weiter verschärft worden sein. Unter Berücksichtigung des Hintergrunds der fortwährenden Belästigung und der vorherrschenden negativen Einstellung gegenüber Mitgliedern der LGBT-Gemeinschaft in Armenien war der EGMR der Ansicht, dass die Situation, in der sich Oganesowa infolge des Brandanschlags und der darauffolgenden, durch homophoben Hass motivierten (Online-)Angriffe auf ihre Person befand, in ihr zwangsläufig Gefühle der Furcht, Angst und Unsicherheit hervorgerufen haben müssten, die nicht mit der Achtung ihrer Menschenwürde in Einklang stehen und folglich schwer genug wiegen, um die entsprechende Schwelle im Sinne von Artikel 3 der EMRK in Verbindung mit Artikel 14 zu überschreiten.

Insbesondere im Hinblick auf die äußerst beleidigende Hassrede im Internet merkte der EGMR an, dass Oganesowa die in ihrem Besitz befindlichen Beweismittel, darunter Screenshots der einschlägigen Webseiten, welche homophobe Kommentare beinhalteten, der Polizei übergeben habe. Allerdings enthalte das dem EGMR vorliegende Material nichts, das angemessene Folgemaßnahmen in der Sache nahelegt. Gemäß dem Urteil des EGMR muss zwar nicht jedwede Äußerung im Zusammenhang mit Hassrede als solche Strafverfolgung und strafrechtliche Sanktionen nach sich ziehen, der EGMR betonte jedoch gleichzeitig, dass Kommentare, die Hassrede und Aufstachelung zu Gewalt gleichkommen und folglich prima facie eindeutig rechtswidrig sind, den Staat grundsätzlich dazu verpflichten könnten, gewisse positive Maßnahmen zu ergreifen. Ebenso hielt er fest, dass die Aufstachelung zu Hass nicht zwangsläufig einen Aufruf zu einer Gewalttat oder anderen Straftaten einschließt. Angriffe auf Menschen, die begangen werden, indem bestimmte Bevölkerungsgruppen beleidigt, der Lächerlichkeit preisgegeben oder verleumdet werden, könnten für die Behörden ausreichend sein, um angesichts von auf unverantwortliche Weise ausgeübter freier Meinungsäußerung die Bekämpfung von Hassrede zu fördern. Der EGMR nahm zudem Bezug auf seine frühere Rechtsprechung, in der er ausführte, dass bei schwerwiegende Vergehen darstellenden Taten, die sich gegen die physische und psychische Integrität einer Person richten, allein wirksame strafrechtliche Mechanismen angemessenen Schutz sicherstellen und als abschreckender Faktor dienen könnten (siehe IRIS 2020-3/21). Unter Berücksichtigung der Gewalttaten, einschließlich des Brandanschlags, hätten die Behörden die auf Social-Media-Plattformen geposteten Hasskommentare umso ernster nehmen müssen. Stattdessen hätten Abgeordnete und hochrangige Politiker selbst intolerante Äußerungen getätigt, indem sie das Vorgehen der Täter öffentlich billigten. Schließlich nahm der EGMR die Entwicklung des innerstaatlichen Rechts zur Kenntnis, demgemäß Hassrede in Artikel 226.2 des Strafgesetzbuchs seit 2020 verboten ist. Der EGMR wies jedoch darauf hin, dass sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität trotz der diesbezüglichen Empfehlungen einschlägiger internationaler Organe noch immer nicht unter die Merkmale der Opfer des Straftatbestands der Hassrede fallen. Der EGMR befand daher, dass die Behörden nicht angemessen auf die homophobe Hassrede reagiert haben, deren unmittelbares Zielobjekt Oganesowa wegen ihrer sexuellen Orientierung war. Er kam zu dem Schluss, dass die armenischen Behörden Oganesowa keinen geeigneten Schutz vor homophoben Angriffen und Hassrede angeboten und keine ordnungsgemäße Untersuchung der durch Hass motivierten Misshandlung, einschließlich des Brandanschlags auf den Club und der darauffolgenden homophoben Angriffe, durchgeführt hätten. Dementsprechend liege ein Verstoß gegen Artikel 3 der EMRK in Verbindung mit Artikel 14 vor. Der EGMR stellte fest, dass dies bedeutet, dass er die gemäß Artikel 8 der EMRK in Verbindung mit Artikel 14 oder gemäß Artikel 13 erhobenen Beschwerden nicht untersuchen muss.


Referenzen

  • Judgment by the European Court of Human Rights, Fourth Section, in the case of Oganezova v. Armenia, Application nos. 71367/12 and 72961/12, 17 May 2022
  • https://hudoc.echr.coe.int/eng?i=001-217250
  • Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, Vierte Sektion, im Fall Oganesowa gegen Armenien, Beschwerden Nr. 71367/12 und 72961/12, 17. Mai 2022

Verknüpfte Artikel

IRIS 2020-3:1/21 Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte: Beizaras und Levickas gegen Litauen

Dieser Artikel wurde in IRIS Rechtliche Rundschau der Europäischen Audiovisuellen Informationsstelle veröffentlicht.