Georgien

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte: Gachechiladse gegen Georgien

IRIS 2021-8:1/23

Dirk Voorhoof

Menschenrechtszentrum, Universität Gent und Legal Human Academy

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat einen Verstoß gegen das Recht auf freie Meinungsäußerung gemäß Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) festgestellt. Hintergrund waren die Ordnungswidrigkeitsverfahren und die daraus folgenden Sanktionen wegen der Verbreitung von Bildern in Sozialen Medien und auf der Verpackung von Kondomen, welche die innerstaatlichen Gerichte in Georgien als unethische Werbung erachteten. Laut dem EGMR gab es keine Belege für das Vorliegen einer dringenden sozialen Notwendigkeit für den Eingriff in die Werbung. Er hielt die Priorisierung von ethischen Ansichten von Mitgliedern der georgisch-orthodoxen Kirche bei der Abwägung verschiedener gemäß der EMRK und der georgischen Verfassung geschützter Werte für inakzeptabel.

Die Beschwerdeführerin, Ani Gachechiladse, ist die Herstellerin von Kondomen unter dem Markennamen Aiisa (was „dieses Ding“ bedeutet). Die Sujets der Kondomverpackungen waren unterschiedlich und umfassten Darstellungen von populären fiktiven Figuren, frühere und aktuelle historische und politische Persönlichkeiten, Verweise auf politische Ereignisse und Religion, verschiedene Gegenstände wie Lutscher, Zitate aus Literatur und Musik, verbreitete Slogans, Wortspiele, Sujets zur Unterstützung der LGBT-Gemeinschaft sowie satirische Bilder. Die Kondome wurden online und über Automaten verkauft. Nach einer Beschwerde des Vorsitzes der konservativen politischen Bürgerbewegung „Kartuli Idea“ (Georgische Idee), dass Aiisa Sujets verwendet habe, welche die religiösen Gefühle der Georgier verletzen, wurde ein Verwaltungsverfahren gegen Gachechiladse eingeleitet. Im Jahr 2018 verkündete das Tifliser Stadtgericht eine Entscheidung, in der es feststellt, dass vier umstrittene Sujets unethische Werbung darstellen, da sie gegen die öffentliche Moral verstoßen. Es verurteilte Gachechiladse zur Zahlung einer Geldstrafe von rund EUR 165 und zur Einstellung der Verwendung und Verbreitung der entsprechenden Sujets auf den Produkten und in Sozialen Medien sowie zur Durchführung einer Rückrufaktion in Bezug auf bereits vertriebene Produkte. Das Tifliser Berufungsgericht als letztinstanzliches Gericht bestätigte das Urteil. Es betonte, dass es Gachechiladse hätte bewusst sein müssen, dass die Darstellung von Figuren und religiösen Symbolen auf Gegenständen sexueller Art, wie etwa Kondomen, in Georgien als Verletzung der Religion, religiöser Symbole und Monumente empfunden wird. Da jede der vier strittigen Werbungen als beleidigende Handlung eingestuft wurde, die im Widerspruch zur öffentlichen Moral steht, fielen sie gemäß dem Werbegesetz unter die Definition der „unethischen Werbung“. Der Eingriff in Gachechiladses Recht wurde im Rahmen des Geltungsbereichs von Artikel 10 der EMRK als in einer demokratischen Gesellschaft notwendig erachtet.

In seinem Urteil vom 22. Juli 2021 widersprach der EGMR den meisten Feststellungen der georgischen Gerichte. Aufgrund der Tatsache, dass es sich um Werbeaussagen handelte, akzeptierte der EGMR den von den georgischen Behörden geltend gemachten breiten Ermessensspielraum nicht. Der EGMR ist der Auffassung, dass die Marke der Beschwerdeführerin wohl auch darauf abzielt, eine öffentliche Debatte zu verschiedenen Themen von allgemeinem Interesse einzuleiten und/oder dazu beizutragen. Insbesondere sei es das – zum Zeitpunkt ihrer Einführung geäußerte – erklärte Ziel der Marke, Stereotype zu zerstören und „ein geeignetes Verständnis von Sex und Sexualität zu fördern“. Darüber hinaus stellten einige von der Marke verwendete Sujets anscheinend auch eine Gesellschaftskritik sowie einen politischen Kommentar zu verschiedenen Ereignissen oder Themen dar. Unter diesen Umständen sei der den innerstaatlichen Gerichten gewährte Ermessensspielraum im Vergleich zu Situationen, die ausschließlich Werbeaussagen betreffen, notwendigerweise enger (siehe auch IRIS 2018-3/4).

Nach einer Bewertung jeder der vier strittigen Werbungen kam der EGMR zu dem Schluss, dass zumindest in Bezug auf drei der vier umstrittenen Sujets die von den innerstaatlichen Gerichten angeführten Gründe nicht zutreffend und ausreichend waren, um einen Eingriff gemäß Artikel 10(2)der EMRK zu rechtfertigen. Der EGMR erkannte die Feststellung der innerstaatlichen Gerichte an, dass eine der entsprechend gestalteten Werbungen als unbegründete Beleidigung des Objekts der Verehrung für Georgier, die sich zum orthodoxen christlichen Glauben bekennen, angesehen werden kann. Doch widersprach der EGMR im Grundsatz der offensichtlichen impliziten Folgerung in den Entscheidungen der innerstaatlichen Gerichte, dass die ethischen Ansichten der Mitglieder der georgisch-orthodoxen Kirche bei der Abwägung verschiedener gemäß der EMRK und der georgischen Verfassung geschützter Werte Vorrang haben. Der EGMR bekräftigte erneut, dass in einer pluralistischen, demokratischen Gesellschaft diejenigen, die sich frei dazu entscheiden können, sich zu ihrer Religion zu bekennen, es dulden und hinnehmen müssen, dass andere ihre religiösen Überzeugungen ablehnen und sogar Lehren verbreiten, die ihrem Glauben zuwiderlaufen (siehe auch IRIS 1995-1/1 und IRIS 2005-10/3). Da der EGMR feststellte, dass der Eingriff in zumindest drei der vier umstrittenen Sujets in einer demokratischen Gesellschaft nicht notwendig war, kam er abschließend einstimmig zu dem Ergebnis, dass ein Verstoß gegen Artikel 10 der EMRK vorliegt.


Referenzen

  • European Court of Human Rights, Fifth Section, in the case of Gachechiladze v. Georgia, Application no. 2591/19, 22 July 2021
  • http://hudoc.echr.coe.int/eng?i=001-211123
  • Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Fünfte Sektion, im Fall Gachechiladze gegen Georgien, Beschwerde Nr. 2591/19, 22. Juli 2021

Verknüpfte Artikel

IRIS 2018-3:1/4 Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte: Sekmadienis Ltd. gegen Litauen

Dieser Artikel wurde in IRIS Rechtliche Rundschau der Europäischen Audiovisuellen Informationsstelle veröffentlicht.