Litauen

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte: Narbutas gegen Litauen

IRIS 2024-2:1/29

Dirk Voorhoof

Menschenrechtszentrum, Universität Gent und Legal Human Academy

In einem seiner letzten Urteile 2023 stellte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) eine Verletzung der Rechte eines Beschwerdeführers sowohl nach Artikel 8 (Recht auf Privatsphäre) als auch nach Artikel 10 (Recht auf Meinungsfreiheit) der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) fest. Der EGMR stellte fest, die Behörden hätten das Recht des Beschwerdeführers auf Schutz seines Ansehens gemäß Artikel 8 EMRK verletzt, indem sie die Identität des Beschwerdeführers am Tag seiner Verhaftung preisgaben, ihn der Medienberichterstattung aussetzten und mehrere (Online-)Pressemitteilungen während der vorgerichtlichen Ermittlungen veröffentlichten.

Das dem Beschwerdeführer auferlegte Verbot, seinen Fall in den Medien und auf seiner Facebook-Seite zu erörtern, was ihn im Vergleich zu den Behörden benachteiligt habe, denen es freigestanden habe, sich öffentlich zu dem Fall zu äußern, stelle eine Verletzung des in Artikel 10 EMRK garantierten Rechts des Beschwerdeführers auf freie Meinungsäußerung dar.

Im vorliegenden Fall geht es um die Verhaftung und strafrechtliche Verfolgung von Šarūnas Narbutas im Rahmen einer viel beachteten strafrechtlichen Untersuchung im Zusammenhang mit Narbutas' Beteiligung am Erwerb einer großen Anzahl von COVID-19-Tests durch die litauische Regierung.

Narbutas war Vorsitzender der Litauischen Koalition der Krebspatienten (POLA) und Rechtsberater des litauischen Präsidenten. Er war zudem im Bereich des öffentlichen Gesundheitswesens tätig und arbeitete gleichzeitig als Universitätsdozent, Leiter eines Privatunternehmens und selbständiger Berater. 2020 vermittelte er die Kontakte zwischen einem spanischen Pharmaunternehmen und dem Nationallabor für öffentliche Gesundheitsüberwachung, einer öffentlichen Einrichtung unter der Aufsicht des litauischen Gesundheitsministeriums. Diese Kontakte führten zum Kauf von 303 360 COVID-19-Tests für insgesamt mehr als fünf Millionen Euro.

Der Sonderermittlungsdienst (STT) leitete eine Untersuchung der Umstände des Kaufs ein. Narbutas wurde festgenommen und war zwei Tage in Untersuchungshaft. Ihm wurde offiziell mitgeteilt, er stehe unter Verdacht, missbräuchlich Einfluss genommen und von dem Pharmaunternehmen ein als Provision getarntes Bestechungsgeld in Höhe von EUR 303.360 gefordert und angenommen zu haben.

Am selben Tag veröffentlichte der STT auf seiner Website eine Pressemitteilung, in der er Narbutas' vollen Namen und seine frühere Funktion als Leiter der POLA nannte und erklärte, dass er der missbräuchlichen Einflussnahme verdächtigt werde und dass an verschiedenen Orten in Vilnius Durchsuchungen, Beschlagnahmungen, Befragungen und weitere notwendige Ermittlungsmaßnahmen durchgeführt würden.

Die in der Pressemitteilung enthaltenen Informationen wurden von mehreren großen Nachrichten-Websites übernommen. Der Sprecher des STT gab darüber hinaus verschiedenen Journalisten Interviews, in denen er im Wesentlichen die gleichen Informationen wie in der Pressemitteilung nannte. Am folgenden Tag, nachdem Narbutas aus der Haft entlassen und unter Hausarrest gestellt worden war, sprachen er und der Staatsanwalt mit mehreren Journalisten; die Videoaufnahmen ihrer Interviews oder Zitate wurden noch am selben Tag online veröffentlicht.

Einige der Nachrichtenbeiträge enthielten auch Fotos oder Videos, wie Narbutas von Polizeibeamten mit den Händen auf dem Rücken in den Gerichtssaal geführt wurde. In den Interviews kritisierte Narbutas die strafrechtlichen Maßnahmen des STT gegen eine seiner Meinung nach rechtmäßige gewerbliche Tätigkeit. In den folgenden Tagen sorgte der Fall für Schlagzeilen in Litauen. Mehrere Politiker äußerten sich zu der mangelnden Transparenz beim Kauf einer so großen Anzahl von COVID-19-Tests.

Narbutas gab verschiedenen Nachrichtenmedien weitere Interviews und veröffentlichte Beiträge auf seiner Facebook-Seite, in denen er seine Rolle beim Kauf der Tests darlegte und betonte, dass sein Handeln rechtmäßig gewesen sei. Er kritisierte vor allem das Vorgehen des STT. Einige Wochen später wurde Narbutas von der Staatsanwaltschaft offiziell verwarnt, dass er ohne Erlaubnis der Staatsanwaltschaft keine Informationen über die vorgerichtlichen Ermittlungen weitergeben dürfe. Mehrere Einsprüche zur Aufhebung des Verbots, seinen Fall zu kommentieren, scheiterten.

2023 wurde Narbutas vom Regionalgericht Vilnius freigesprochen, da es der Ansicht war, dass Narbutas nicht gegen das Strafrecht verstoßen hatte. Der Staatsanwalt legte gegen diesen Freispruch Berufung ein; der Fall war während des Verfahrens vor dem EGMR noch anhängig.

Narbutas reichte beim EGMR eine Reihe von Beschwerden ein, darunter wegen Verletzung seines Rechts auf Schutz seines Ansehens gemäß Artikel 8 und seines Rechts auf freie Meinungsäußerung gemäß Artikel 10 EMRK. Er klagte, dass der STT seinen Namen und seine Beschäftigungsbiografie am Tag seiner Verhaftung in einer Pressemitteilung veröffentlicht hatte und dass er vor den Augen von Journalisten einem Gericht vorgeführt worden war. Er machte geltend, diese Bloßstellung und die regelmäßigen Kommentare des STT und von Beamten zum Fall in den Medien hätten seine Rechte nach Art. 6 Abs. 2 (Unschuldsvermutung) und Artikel 8 EMRK verletzt.

Der EGMR stellte fest, die nationalen Behörden hätten es versäumt, angemessen zwischen dem Recht der Behörden, die Öffentlichkeit über die vorgerichtlichen Ermittlungen gemäß Artikel 10 EMRK zu informieren, und dem Recht Narbutas‘ auf Achtung seines Privatlebens einschließlich seines Ansehens gemäß Artikel 8 EMRK abzuwägen. Der EGMR konnte nicht feststellen, dass Narbutas‘ Bekanntheit oder seine Rolle in der Öffentlichkeit die Offenlegung seiner Identität rechtfertigte, als der STT die Verdachtsmomente gegen ihn veröffentlichte.

Er betonte, Narbutas sei kein Politiker und habe zum damaligen Zeitpunkt kein öffentliches Amt bekleidet: Er sei Universitätsdozent, Leiter eines Privatunternehmens und selbständiger Berater. Er sei zwar früher Berater eines Abgeordneten und des Präsidenten gewesen, seine Tätigkeit in diesen Positionen habe jedoch zehn beziehungsweise vier Jahre vor den fraglichen Ereignissen geendet.

Darüber hinaus teilte der EGMR die Ansicht Narbutas‘, die Behörden hätten durch die Bekanntgabe seiner Identität das Interesse der Medien an dem Fall gesteigert und die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass die beanstandeten Fotos und Videos aufgenommen und veröffentlicht werden konnten. Narbutas habe sich nicht freiwillig der Öffentlichkeit ausgesetzt, sondern gezwungenermaßen am Gerichtstermin teilgenommen. Unter diesen Umständen habe er keine Möglichkeit gehabt, seine Privatsphäre zu schützen und zu verhindern, dass Journalisten Bilder von ihm machten, wie er von Polizeibeamten in einer Art geführt wurde, die den Anschein erweckte, dass ihm Handschellen angelegt seien.

Der EGMR stellte darüber hinaus fest, einige Passagen in den Pressemitteilungen des STT, in denen die Erklärungen des Staatsanwalts zitiert wurden, kämen einer moralischen Verurteilung Narbutas‘ gleich. Sie seien nachdrücklich und unmissverständlich formuliert und geeignet gewesen, sein Ansehen zu schädigen. Der EGMR räumte zwar ein, die vorgerichtlichen Ermittlungen gegen Narbutas hätten eine Angelegenheit von öffentlichem Interesse betroffen und die Information der Öffentlichkeit über diese Untersuchung habe zu einer Debatte von öffentlichem Interesse beitgetragen, stellte jedoch fest, die Art und Weise, wie die litauischen Behörden den Fall publik gemacht hätten, habe Narbutas' Recht auf Schutz seines Ansehens gemäß Artikel 8 EMRK verletzt.

Der EGMR bekräftigte darüber hinaus, die Behörden könnten nicht daran gehindert werden, die Öffentlichkeit über laufende strafrechtliche Ermittlungen zu informieren. Sie müssten dies jedoch mit der nötigen Diskretion und Umsicht tun, damit die Unschuldsvermutung gewahrt bleibe. Schließlich verwies der EGMR auch auf die Tatsache, dass alle Pressemitteilungen und Artikel, die die Erklärungen der Behörden zu dem Fall wiedergaben, online verfügbar gewesen seien. Er wies auf die Gefahr hin, die Inhalte und Mitteilungen im Internet für die Ausübung und Wahrnehmung der Menschenrechte und Freiheiten, insbesondere des Rechts auf Achtung des Privatlebens, darstellen könnten. Dieses Risiko sei sicherlich höher als jenes, das von der Presse ausgehe, vor allem angesichts der wichtigen Rolle von Suchmaschinen. Der EGMR befand daher, Inhalt und Form der von den Ermittlungsbehörden herausgegebenen Pressemitteilungen und öffentlichen Stellungnahmen seien nicht durch die Notwendigkeit gerechtfertigt gewesen, die Öffentlichkeit über das laufende Strafverfahren zu informieren, und seien geeignet gewesen, Narbutas‘ Ansehen nachhaltig zu beschädigen.

Darüber hinaus hätten die Behörden, indem sie Narbutas verboten, den Fall in den Medien und auf seiner Facebook-Seite zu diskutieren, eine abschreckende Wirkung erzeugt und ihn daran gehindert, sich öffentlich zu den vorgerichtlichen Ermittlungen zu äußern. Zum Zeitpunkt der Verwarnung sei bereits eine beträchtliche Menge an Informationen über die vorgerichtlichen Ermittlungen veröffentlicht worden. Es habe keine Hinweise darauf gegeben, dass Narbutas Informationen über geheime Überwachungsmaßnahmen oder andere vertrauliche Informationen über die vorgerichtlichen Ermittlungen weitergegeben haben könnte.

Wenn über einen Fall in den Medien ausführlich berichtet werde, könne eine Person hinsichtlich der Schwere des Sachverhalts und der möglicherweise betroffenen Personen nicht wegen Verletzung des Ermittlungsgeheimnisses belangt werden, wenn sie lediglich persönlich Kommentare zu Informationen abgegeben habe, die den Journalisten bereits bekannt seien und über die sie mit oder ohne diese Kommentare zu berichten beabsichtigten. Daher kam der EGMR zu dem Schluss, dass der Eingriff in Narbutas' Recht auf freie Meinungsäußerung gegen sein Recht nach Artikel 10 EMRK verstieß.


Referenzen

  • Judgment by the European Court of Human Rights, Second section, in the case Narbutas v. Lithuania, Application no. 14139/21, 19 December 2023.
  • https://hudoc.echr.coe.int/eng?i=001-229604
  • Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, Zweite Sektion, in der Rechtssache Narbutas gegen Litauen, Beschwerde Nr. 14139/21, 19. Dezember 2023.

Dieser Artikel wurde in IRIS Rechtliche Rundschau der Europäischen Audiovisuellen Informationsstelle veröffentlicht.