Österreich

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte: Zöchling gegen Österreich

IRIS 2023-10:1/20

Dirk Voorhoof

Menschenrechtszentrum, Universität Gent und Legal Human Academy

In seinem Urteil vom 5. September 2023 befasste sich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) mit einer Beschwerde auf der Grundlage von Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Darin ging es um die Weigerung eines österreichischen Gerichts, ein Online-Nachrichtenportal für die Verbreitung von Hasskommentaren gegen eine Journalistin haftbar zu machen. Der Europäische Gerichtshof berief sich in seiner Entscheidung auf frühere Urteile der Großen Kammer im Zusammenhang mit Artikel 10 EMKR - Freiheit der Meinungsäußerung - wie in Delfi AS gegen Estland (IRIS 2015-7/1) und Sanchez gegen Frankreich (IRIS 2023-6:1/15). Der EGMR bekräftigte seinen Standpunkt, den er in diesen Urteilen zum Ausdruck gebracht hatte: Wenn Kommentare zu Hass aufstacheln und direkte Drohungen gegen Personen enthalten, dann sind Staaten aufgrund der Rechte und Interessen anderer und der Gesellschaft insgesamt befugt, Online-Portale haftbar zu machen, wenn sie es versäumt haben, Maßnahmen einzuführen, die rechtswidrige Kommentare unverzüglich löschen. Nach Auffassung des EGMR ist ein Minimum an Moderation oder automatischer Filterung erforderlich, um eindeutig rechtswidrige Kommentare festzustellen und sicherzustellen, dass sie so schnell wie möglich gelöscht werden, auch dann, wenn es keine Anzeige einer betroffenen Partei gegeben hat.

Bei der Beschwerdeführerin handelt es sich um die Journalistin Christa Zöchling, eine ehemalige Mitarbeiterin des österreichischen Nachrichtenmagazins profil, die gegen die Veröffentlichung von Hasskommentaren in einem Nachrichtenportal geklagt hatte. In dem betreffenden Onlineportal, das zu dem Medienkonzern Medienvielfalt VerlagsGmbH gehört, können Nutzer, die sich mit ihrer E-Mail-Adresse registriert haben, Kommentare zu den Online-Artikeln des Portals posten, ohne dass die Inhalte vor oder nach der Veröffentlichung überprüft werden. Die Nutzer werden lediglich darüber informiert, dass rechtswidrige Kommentare nicht erwünscht sind. Die Kommentare werden von einem Mitarbeiter technisch für die Veröffentlichung aufbereitet und erscheinen direkt unter dem betreffenden Artikel. Am 11. September 2016 hatte das Nachrichtenportal einen Artikel über Christa Zöchling veröffentlicht, zusammen mit einem Foto der Journalistin. Einen Tag später postete ein Nutzer, er habe das Foto von Christa Zöchling ausgedruckt und ihr anschließend ins Gesicht geschossen, und er habe andere aufgefordert, es ihm nachzutun. Ein anderer Nutzer beschimpfte Frau Zöchling als eine "Plage", eine "dumme Person" und eine "Larve" und erklärte, er bedaure, dass es keine Gaskammern mehr gebe. Am 23. September forderte Christa Zöchling das Nachrichtenportal auf, die Kommentare zu löschen und die Identität der Nutzer preiszugeben. Das Nachrichtenportal löschte die Kommentare innerhalb weniger Stunden und teilte der Beschwerdeführerin am 29. September 2016 die E-Mail-Adressen der Nutzer mit. Allerdings waren die Hasskommentare 12 Tage lang auf dem Portal sichtbar. Die Verfasser der Hasskommentare wurden zwar gesperrt, aber Frau Zöchling konnte nicht die Namen und Postanschriften der Nutzer in Erfahrung bringen, da die E-Mail-Provider sich weigerten, die Daten der Nutzer herauszugeben.

Daraufhin klagte Frau Zöchling vor dem Landesgericht für Strafsachen Wien gegen das Internetportal und forderte Schadenersatz für die Veröffentlichung der beleidigenden Kommentare. Das Landesgericht gab der Klage von Frau Zöchling statt. Es begründete seine Entscheidung damit, dass bereits der Artikel über die Journalistin in dem Nachrichtenportal bewusst Antipathien gegen sie geschürt habe, dass die Kommentare zu dem Artikel zu Gewalt gegen sie aufgerufen hatten und dass zu Artikeln, die von dem Portal veröffentlicht worden waren, wiederholt aggressive Kommentare gepostet wurden. 2017 kassierte das Berufungsgericht jedoch das Urteil des erstinstanzlichen Gerichts. Es stellte fest, dass Medien nicht verpflichtet waren, alle Kommentare zu überwachen, die auf ihrer Homepage eingingen und dass sie von der Haftung befreit waren, wenn sie die rechtswidrigen Inhalte nach Eingang der Benachrichtigung sofort gelöscht hatten. Das Berufungsgericht fand, dass das Online-Portal mit gebührender Sorgfalt vorgegangen war, so wie es vom österreichischen Mediengesetz verlangt wird, und die betreffenden Kommentare sofort nach der Benachrichtigung durch Frau Zöchling gelöscht hatte. Es sei daher nicht für den Schaden haftbar, der von Frau Zöchling geltend gemacht wurde. Daraufhin wandte sich die Journalistin an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. In ihrer Klage bezog sie sich auf Artikel 8 EMRK und warf der Republik Österreich vor, mit der Abweisung ihrer Klage nicht ihrer positiven Verpflichtung nachgekommen zu sein, ihr Privatleben und ihren guten Ruf zu schützen.

In seiner Entscheidung stellte der Europäische Gerichtshof zunächst klar, dass er dieselben Kriterien wie in der Rechtssache Delfi anwenden werde. In diesem Urteil hatte die Große Kammer folgende Kriterien für die Bewertung der Haftung von Internetportalen für Kommentare von Dritten zugrunde gelegt: den Kontext der Kommentare, die Maßnahmen, die von dem Unternehmen angewandt wurden, um diffamierende Kommentare zu verhindern oder zu löschen, die Haftung der Verfasser der Kommentare als eine Altermative zu der Haftung der Vermittlungsdienste und die Konsequenzen der unternehmensinternen Verfahren für das Onlineportal. Für eine faire Interessenabwägung zwischen dem Recht einer Person auf Achtung ihres Privatlebens nach Artikel 8 EMKR und dem Recht auf freie Meinungsäußerung nach Artikel 10 EMRK müsse die Art des Kommentars berücksichtigt werden, um beurteilen zu können, ob es sich um Hassrede oder Aufstachelung zu Gewalt handelt. Der EGMR konzentrierte sich in erster Linie auf die Frage, ob die Löschung der Kommentare nach Aufforderung durch Frau Zöchling ein hinreichender Grund war, um das Nachrichtenportal von der Haftung zu befreien. Er stellte fest, dass das Berufungsgericht nicht die Möglichkeit geprüft hatte, ob die Einführung eines Notice and take down-Verfahrens ein nützliches Instrument für eine Abwägung der Rechte und Interessen aller Beteiligten gewesen wäre. Der EGMR betonte, dass ein Mindestmaß an Moderation oder automatischer Filterung wünschenswert wäre, um eindeutig rechtswidrige Kommentare festzustellen und so schnell wie möglich zu löschen, auch dann, wenn keine Anzeige erstattet wurde. Er wies auch darauf hin, dass das Berufungsgericht in seiner Entscheidung nicht die Erkenntnis des erstinstanzlichen Landesgerichts berücksichtigt hatte, nämlich dass die beleidigenden Kommentare zu Frau Zöchling keine einmalige Angelegenheit waren, sondern wiederholt vorgekommen waren und dass das Onlineportal daher damit hätte rechnen müssen. Außerdem habe das Berufungsgericht auch nicht die Erkenntnis des Landesgerichts berücksichtigt, dass der Artikel, auf den sich die Kommentare bezogen, absichtlich Antipathien gegen Frau Zöchling geschürt habe, und es habe sich nicht mit dem Inhalt der Kommentare befasst, obwohl es sich dabei eindeutig um Hassnachrichten und Aufstachelung zu Gewalt gehandelt habe. Der EMGR ging auch auf die Tatsache ein, dass Frau Zöchling, obwohl sie Klage gegen die anonymen Verfasser der Kommentare eingereicht hatte, von den Internetprovidern die Herausgabe der Kontaktdaten verweigert wurde.

Der EGMR bestätigte, dass Internetplattformen zwar nicht generell verpflichtet seien, gespeicherte Informationen zu überwachen, dass jedoch zumindest ein gewisses Maß an Rechteabwägung zwischen den Interessen der Beschwerdeführer, die Schadenersatz fordern und sich auf Artikel 8 berufen, und den Interessen der Medien, ihre Rechte nach Artikel 10 EMRK zu schützen, notwendig sei. Die österreichische Regierung hatte zwar eingeräumt, dass eine solche Abwägung notwendig sei und das Berufungsgericht hatte sich in seiner Entscheidung ausdrücklich auf die Rechtssache Delfi bezogen. Aber das Berufungsgericht hatte es versäumt, die entsprechenden Kriterien auf den Fall anzuwenden. Der EGMR kam zu dem Schluss, dass das Berufungsgericht aufgrund des Fehlens einer solchen Rechteabwägung seinen Verpflichtungen zum Schutz der Rechte der Klägerin auf Achtung ihres Privatlebens und ihres guten Rufs nicht nachgekommen sei. Daher liege ein Verstoß gegen Artikel 8 EMRK vor.

 


Referenzen

  • Judgment by the European Court of Human Rights, Fourth Section, sitting as a Committee, in the case of Zöchling v. Austria, Application No. 4222/18, 5 September 2023
  • https://hudoc.echr.coe.int/eng?i=001-226418
  • Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, Vierte Abteilung, im Ausschuss tagend, in der Rechtssache Zöchling gegen Österreich, Beschwerde Nr. 4222/18, 5. September 2023

Verknüpfte Artikel

IRIS 2015-7:1/1 Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte: Delfi AS gegen Estland (Große Kammer)

IRIS 2023-6:1/15 Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (Große Kammer): Sanchez gegen Frankreich

Dieser Artikel wurde in IRIS Rechtliche Rundschau der Europäischen Audiovisuellen Informationsstelle veröffentlicht.