Griechenland

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte: Amvrosios-Athanasios Lenis gegen Griechenland

IRIS 2023-9:1/21

Dirk Voorhoof

Menschenrechtszentrum, Universität Gent und Legal Human Academy

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) bestätigte ein weiteres Mal, dass das Schüren von Hass, Diskriminierung oder Gewalt gegen LGBTI-Personen in einer demokratischen Gesellschaft nicht toleriert werden könne. In Anwendung der Missbrauchsklausel von Artikel 17 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) befand der EGMR, dass sich Amvrosios-Athanasios Lenis als hochrangiger Würdenträger der orthodoxen Kirche nicht auf das Recht auf freie Meinungsäußerung nach Artikel 10 EMRK berufen könne: Lenis' über seinen persönlichen Blog-Spot verbreitete Äußerungen und Erklärungen stellten die schwerste Form von Hassrede und Anstiftung zur Gewalt gegen Homosexuelle dar.

Der Fall geht auf das Jahr 2015 zurück, als Lenis, der damals Metropolit von Kalavryta und Aigialeia war, in seinem persönlichen Blog einen Artikel veröffentlichte, in dem er einen im griechischen Parlament diskutierten Gesetzesvorschlag zur Einführung eingetragener Lebenspartnerschaften für gleichgeschlechtliche Paare heftig kritisierte. In seinem Artikel bezeichnete er Homosexuelle als „Abschaum der Gesellschaft“ und klassifizierte Homosexualität als Abweichung von den Naturgesetzen, als gesellschaftliches Verbrechen und als Sünde. Homosexuelle wurden als schändliche Menschen beschrieben, und weiter hieß es: „Spuckt sie an! Verurteilt sie! Schwärzt sie aus! Sie sind keine Menschen! Sie sind Perversionen der Natur! Sie sind seelisch und geistig krank! Sie sind Menschen mit einer psychischen Störung! [..] Zögert also nicht! Wenn ihr sie trefft, spuckt sie an! Lasst nicht zu, dass sie ihr Haupt erheben! Sie sind gefährlich!“. Der Text wurde von mehreren Websites, Medien und sozialen Medien übernommen. Gegen Lenis wurde Anklage erhoben, und nachdem er in erster Instanz freigesprochen worden war, erklärte das Berufungsgericht Lenis der öffentlichen Anstiftung zu Gewalt oder Hass gegen Menschen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung für schuldig. Der Kassationsgerichtshof bestätigte übereinstimmend dieses Urteil, dass Lenis' Recht auf freie Meinungsäußerung nicht verletzt worden sei, da sein Artikel geeignet gewesen sei, Diskriminierung und Hass gegen homosexuelle Menschen zu bewirken. Lenis wurde zu einer Haftstrafe von fünf Monaten verurteilt, die für drei Jahre zur Bewährung ausgesetzt wurde. Er klagte vor dem EGMR, diese strafrechtliche Verurteilung habe sein Recht auf Meinungsfreiheit nach Artikel 10 EMRK verletzt.

Der EGMR konzentrierte sich in seiner Entscheidung auf das Verhältnis zwischen Artikel 17 und Artikel 10 EMRK. Er bekräftigte, dass Äußerungen, die mit den von der EMRK verkündeten und garantierten Werten unvereinbar seien, aufgrund von Artikel 17 EMRK (auch als „Missbrauchsklausel“ bezeichnet) nicht durch Artikel 10 geschützt seien. Der Zweck von Artikel 17, soweit er sich auf Gruppen oder Einzelpersonen beziehe, bestehe darin, es ihnen unmöglich zu machen, aus der EMRK ein Recht abzuleiten, eine Tätigkeit auszuüben oder eine Handlung vorzunehmen, die darauf abziele, irgendwelche in der EMRK verankerten Rechte und Freiheiten abzuschaffen; daher dürfe sich niemand auf die Bestimmungen der EMRK berufen können, um Handlungen vorzunehmen, die darauf abzielen, die oben genannten Rechte und Freiheiten abzuschaffen. In seiner früheren Rechtsprechung hatte der EGMR festgestellt, dass die in den Artikeln 9, 10 und 11 EMRK garantierte Religions-, Meinungs- beziehungsweise Vereinigungsfreiheit unter Artikel 17 falle. Entscheidend bei der Einschätzung, ob verbale oder nonverbale Äußerungen durch Artikel 17 vom Schutz nach Artikel 10 ausgenommen sind, sei, ob die Äußerungen gegen die der Konvention zugrundeliegenden Werte gerichtet seien - zum Beispiel durch Anstiftung zu Hass oder Gewalt - und ob sich der Urheber bei der Äußerung auf die EMRK zu stützen versucht habe, um eine Tätigkeit auszuüben oder Handlungen vorzunehmen, die auf die Abschaffung der darin niedergelegten Rechte und Freiheiten gerichtet seien. Der EGMR bekräftigte jedoch auch, Artikel 17 EMRK sei nur ausnahmsweise und in extremen Fällen anzuwenden (siehe auch Perinçek gegen die Schweiz, IRIS 2016-1/1 und Roj TV A/S gegen Dänemark, IRIS 2018-7:1/2).

Der EGMR verwies sodann auf die Feststellung des Berufungsgerichts und des Kassationsgerichts, dass es sich bei dem fraglichen Artikel um Hassrede gegen eine Gruppe von Personen handele, die aufgrund ihrer sexuellen Orientierung ausgewiesen sei, und stimmte deren Schlussfolgerung zu, Lenis‘ Artikel sei geeignet, Gewalt gegen Homosexuelle zu schüren. Er bekräftigte, die verwendeten Worte und der Kontext, in dem sie veröffentlicht worden seien, seien zu berücksichtigen, um festzustellen, ob die Texte in ihrer Gesamtheit als Anstiftung zur Gewalt angesehen werden könnten. Lenis bediene sich harscher Ausdrücke, die so weit gehen würden, dass er homosexuellen Menschen ihre menschliche Natur abspreche; einige seiner Äußerungen würden die Meinungsäußerung eindeutig überschreiten und seien in beleidigender, feindseliger oder aggressiver Weise formuliert. Die Äußerungen könnten als direkter oder indirekter Aufruf zur Gewalt oder als Rechtfertigung von Gewalt, Hass oder Intoleranz angesehen werden, da sie mehrfache Aufforderungen zur Gewalt enthielten, so der EGMR weiter. Der Artikel habe bei Homosexuellen zudem Angstgefühle ausgelöst. Der EGMR verwies außerdem auf den Umstand, dass Lenis ein hochrangiger Würdenträger der griechisch-orthodoxen Kirche sei, der die Macht habe, nicht nur seine Gemeinde, sondern auch viele andere Anhänger dieser Religion, das heißt die Mehrheit der griechischen Bevölkerung, zu beeinflussen. Lenis habe seine Äußerungen über das Internet verbreitet, wodurch seine Botschaft Tausenden von Menschen leicht zugänglich geworden sei. Eindeutig rechtswidrige Äußerungen einschließlich Hassreden und gewaltverherrlichender Äußerungen könnten wie nie zuvor in Sekundenschnelle weltweit verbreitet werden und blieben mitunter dauerhaft verfügbar. Schließlich seien Lenis' Bemerkungen gegen Homosexuelle gerichtet, die als besonders schutzbedürftig angesehen werden könnten. Insbesondere merkte der EGMR an, er habe bereits festgestellt, dass geschlechtliche und sexuelle Minderheiten aufgrund der Marginalisierung und Viktimisierung, der sie in der Vergangenheit ausgesetzt waren und weiterhin ausgesetzt seien, besonderen Schutz vor hasserfüllten und diskriminierenden Äußerungen benötigten. Er nahm auch die geringe Akzeptanz von Homosexualität und der Situation von LGBTI-Personen im nationalen Kontext zur Kenntnis, die in internationalen Berichten aufgezeigt wurde. Als eine Art Ausschlussklausel betonte der EGMR, Kritik an bestimmten Lebensstilen aus moralischen oder religiösen Gründen sei nicht per se vom Schutz des Artikels 10 EMRK ausgenommen. Würden die beanstandeten Äußerungen jedoch so weit gehen, dass LGBTI-Personen wie im vorliegenden Fall ihre Menschlichkeit abgesprochen werde, und mit Anstiftung zu Gewalt einhergehen, dann sollte ein Ansatz von Artikel 17 EMRK in Betracht gezogen werden. In Anbetracht des Charakters und des Wortlauts der streitigen Äußerungen, des Kontextes, in dem sie veröffentlicht wurden, ihres Potenzials, schädliche Folgen nach sich zu ziehen, und der von den griechischen Gerichten angeführten Gründe war der EGMR der Ansicht, es sei sofort klar gewesen, dass die Äußerungen darauf abgezielt hätten, vom eigentlichen Zweck von Artikel 10 EMRK abzulenken, indem das Recht auf freie Meinungsäußerung zu Zwecken genutzt worden sei, die den Werten der EMRK eindeutig entgegenstünden. Auch die Tatsache, dass sich die beanstandeten Äußerungen direkt auf ein Thema bezogen, das in der modernen europäischen Gesellschaft von großer Bedeutung ist - der Schutz der Würde und des menschlichen Wertes von Menschen unabhängig von ihrer sexuellen Orientierung - brachte den EGMR zu der Feststellung, dass Lenis' Beschwerde im Lichte von Artikel 17 EMRK keinen Schutz gemäß Artikel 10 rechtfertige. Da Lenis aufgrund von Artikel 17 EMRK nicht den Schutz von Artikel 10 EMRK beanspruchen konnte, erklärte der EGMR seine Beschwerde für sachlich unvereinbar mit den Bestimmungen der EMRK und wies sie als unzulässig zurück.


Referenzen

  • Decision by the European Court of Human Rights, Third Section, in the case of Amvrosios-Athanasios Lenis v. Greece, Application No. 47833/20, 27 June 2023 and notified in writing on 31 August 2023
  • https://hudoc.echr.coe.int/eng?i=001-226442
  • Beschluss des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, Dritte Sektion, in der Rechtssache Amvrosios-Athanasios Lenis gegen Griechenland, Beschwerde Nr. 47833/20, 27. Juni 2023, schriftlich bekanntgegeben am 31. August 2023

Verknüpfte Artikel

IRIS 2018-7:1/2 Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte: ROJ TV A/S gegen Dänemark

IRIS 2016-1:1/1 Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte: Perinçek gegen Schweiz

Dieser Artikel wurde in IRIS Rechtliche Rundschau der Europäischen Audiovisuellen Informationsstelle veröffentlicht.