Kroatien

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte: Mesić. gegen Kroatien (Nr. 2)

IRIS 2023-7:1/25

Dirk Voorhoof

Menschenrechtszentrum, Universität Gent und Legal Human Academy

In einem Urteil vom 30. Mai 2023 hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) die Beschwerde des ehemaligen kroatischen Staatspräsidenten Stjepan Mesić zurückgewiesen. Mesić hatte 2015 eine Verleumdungsklage gegen ein kroatisches Online-Nachrichtenportal angestrengt, das ihm in einem Artikel die Verwicklung in kriminelle Aktivitäten unterstellt hatte. Nachdem mehrere kroatische Gerichte die Zivilklage Mesićs abgewiesen hatten, wandte er sich an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Der Europäische Gerichtshof kam in seiner Entscheidung zu demselben Schluss wie die kroatischen Gerichte: Er stellte keine Verletzung des Rechts von Mesić auf Schutz seines guten Rufs gemäß Artikel  8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) fest. Der EGMR war der Auffassung, dass der Artikel sich auf eine Angelegenheit von öffentlichem Interesse bezog und dass er sich außerdem auf seriöse Quellen stützte. Der Gerichtshof betonte in seiner Entscheidung die Bedeutung des Investigativ-Journalismus, der eine Garantie dafür sei, dass Behörden für ihr Verhalten zur Rechenschaft gezogen werden können. Der EGMR stellte auch fest, dass die kroatischen Gerichte eine faire Abwägung der konkurrierenden Rechte vorgenommen hatten, und zwar zwischen dem Recht auf Achtung der Privatsphäre (Artikel 8 EMRK) und dem Recht auf Freiheit der Meinungsäußerung (Artikel 10 EMRK), und dass sie außerdem die Rolle der Medien als "Watchdog" gebührend gewürdigt hatten.

Die Beschwerde des kroatischen Ex-Präsidenten bezog sich auf einen Artikel, der im Februar 2015 von dem Online-Nachrichtenportal Dnevno.hr veröffentlicht worden war. Der Artikel legte den Verdacht nahe, dass Mesić während seiner Amtszeit im Zusammenhang mit einem Panzerdeal mit dem finnischen Rüstungskonzern Patria in einen Bestechungsskandal verwickelt gewesen sei. Der Artikel des Online-Portals stützte sich auf eine Pressemitteilung der finnischen Staatsanwaltschaft aus dem Jahr 2013. Darin wurde der Verdacht geäußert, dass es zwischen drei finnischen Patria-Managern und den kroatischen Verhandlungspartnern Absprachen gegeben habe oder dass über Vermittler Bestechungsgelder an die kroatische Seite geflossen seien, als Gegenleistung für ein Entgegenkommen des kroatischen Staatspräsidenten und des Geschäftsführers eines kroatischen Staatsunternehmens. 2014 führte der Journalist von Dnevno.hr ein Telefoninterview mit der finnischen Staatsanwaltschaft. Diese war im Besitz eines Dokuments der finnischen Behörden, aus dem hervorging, dass Mesić Bestechungsgelder in Höhe von 630.000 EUR erhalten hatte. Allerdings sprach das Berufungsgericht Turku 2016 die Patria-Manager von der Anklage frei, da es keine Beweise für den Bestechungsvorwurf finden konnte. Kurz nach der Veröffentlichung des Artikels im März 2015 hatte Mesić das Nachrichtenportal Dnevno.hr aufgefordert, eine Richtigstellung des Artikels zu veröffentlichen. Der Artikel sei falsch und untergrabe seine Ehre und seinen guten Ruf. Das Nachrichtenportal lehnte dies jedoch ab und erläuterte die Gründe, warum es an seinen Behauptungen festhielt. Daraufhin reichte Mesić eine Zivilklage gegen das Nachrichtenportal ein mit der Begründung, dass die Behauptungen über seine Verwicklung in den Patria-Fall falsch seien und seinem guten Ruf schadeten, da er in dem Artikel als korrupter Politiker und Krimineller dargestellt worden sei. Die Klage Mesićs wurde zunächst vom Zivilgericht Zagreb und später vom Berufungsgericht der kroatischen Hauptstadt abgewiesen. Das Berufungsgericht befand, dass der Artikel des Nachrichtenportals sich auf seriöse offizielle Quellen wie das Telefoninterview mit dem finnischen Generalstaatsanwalt und auf die Anklage der finnischen Behörden stütze. Außerdem habe der Artikel über eine Angelegenheit berichtet, die von berechtigtem öffentlichem Interesse sei. Bei dem Kläger handle es sich um eine Person des öffentlichen Lebens, und der Verfasser des Artikels habe in gutem Glauben gehandelt und sich außerdem auf überprüfte Informationen gestützt. Im Dezember 2016 wies auch das kroatische Verfassungsgericht eine Verfassungsklage von Mesić ab. Es vertrat die Auffassung, dass die kroatischen Gerichte ihre Entscheidungen hinreichend begründet hatten, dass diese nicht willkürlich waren und dass keine Verletzung des verfassungsmäßigen Rechts von Mesić auf Wahrung der Unschuldsvermutung vorliege. Daraufhin wandte sich Mesić an den Europäischen Gerichtshof. Die kroatischen Gerichte, so der ehemalige kroatische Staatspräsident, hätten mit der Abweisung seiner Zivilklage sein Recht auf Schutz seines guten Rufes und auf Schutz seiner Privatsphäre verletzt. 

Der Europäische Gerichtshof bestätigte noch einmal, dass es in diesem Fall vor allem um die Frage gehe, ob der Staat im Zusammenhang mit seinen positiven Pflichten nach Artikel 8 EMRK eine faire Abwägung zwischen dem Recht einer Person auf Schutz ihres guten Rufs und den Rechten anderer auf freie Meinungsäußerung vorgenommen hat, ein Grundrecht, das in Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention garantiert wird. Er erinnerte auch daran, dass es immer dann, wenn es um Rechtsstreitigkeiten oder strafrechtliche Ermittlungen gehe, kaum vorstellbar sei, dass es keine öffentliche Diskussion des Falls gebe, sei es in Fachzeitschriften, in der allgemeinen Presse oder in der Öffentlichkeit. Es sei nicht nur die Aufgabe der Medien, solche Informationen oder Ideen zu verbreiten, die Öffentlichkeit habe auch das Recht, diese Informationen zu erhalten. Der EGMR wies auch darauf hin, dass Reporter und andere Vertreter der Medien die Freiheit haben müssen, über Ereignisse auf der Grundlage von Informationen aus amtlichen Quellen zu berichten, ohne dass sie verpflichtet seien, diese zusätzlich zu überprüfen. Allerdings komme es vor, dass die Wahrheit verzerrt werde und so die Grenzen einer akzeptablen Kritik überschritten werden: Eine sachlich richtige Äußerung könne durch zusätzliche Bemerkungen, Werturteile, Mutmaßungen oder Unterstellungen verfälscht werden. Die Aufgabe der Verbreitung von Informationen sei daher zwangsläufig verbunden mit Pflichten und Verantwortung, aber auch mit Grenzen, die von der Presse respektiert werden müssen. Das sei vor allem der Fall, wenn es um schwerwiegende Anschuldigungen gegen prominente Persönlichkeiten geht, da solche Anschuldigungen diese Person in der Öffentlichkeit diskreditieren können. Der EGMR verwies auch auf die unterschiedlichen Kriterien, die bei einer Abwägung zwischen dem Recht auf Achtung der Privatsphäre und dem Recht auf freie Meinungsäußerung zu beachten sind. Wichtig sei vor allem die Frage, ob der Artikel einen Beitrag zu einer Diskussion von öffentlichem Interesse leistet, ferner der Bekanntheitsgrad des Beschwerdeführers und die Art und Weise, wie die Informationen gewonnen wurden, aber vor allem auch der Wahrheitsgehalt.

Der EGMR räumte ein, dass die Tatsache, dass Mesić in dem Artikel als Krimineller dargestellt wurde, sehr wohl in der Lage war, dem Ruf des Politikers ernsthaften Schaden zuzufügen und ihn in den Augen der Öffentlichkeit zu diskreditieren. Der Artikel war in einem bekannten Nachrichtenportal veröffentlicht worden, das von vielen Besuchern genutzt wurde. Die Äußerungen waren also durchaus in der Lage, die Rechte von Mesić nach Artikel 8 EMRK zu verletzen. Anschließend bestätigte der EGMR, dass es sich, wie die kroatischen Gerichte bereits festgestellt hatten, um eine Angelegenheit von öffentlichem Interesse handle und dass die "Wächterrolle" der Presse in diesem Fall von besonderer Bedeutung sei. Investigativ-Journalismus sei eine Garantie, dass die Behörden für ihr Verhalten zur Rechenschaft gezogen werden können. Als Politiker und vor allem als ehemaliger Staatschef müsse Mesić ein erhebliches Maß an Toleranz aufbringen und in Kauf nehmen, dass sein Verhalten von der Presse besonders aufmerksam verfolgt werde. Was den Inhalt des betreffenden Artikels betrifft, so war der EGMR der Aufassung, dass er sich auf eine ausreichende Faktengrundlage und auf die Kontakte mit den finnischen Gerichtsbehörden sowie auf offizielle Dokumente stützt. Der Journalist hatte auch klargemacht, dass er lediglich über etwas berichtet hatte, was in amtlichen Dokumenten festgestelll worden war. Dass die Patria-Manager schließlich von dem Bestechungsvorwurf freigesprochen wurden, sei irrelevant, da der Freispruch erst nach der Veröffentlichung des Artikels erfolgt sei. Im Hinblick auf das Recht von Mesić auf Wahrung der Unschuldsvermutung betonte der EGMR, dass der Grad an Genauigkeit, der notwendig sei, um festzustellen, ob eine Anklage vor Gericht begründet ist, kaum mit den Anforderungen verglichen werden könne, die ein Journalist einhalten müsse, wenn er sich zu Angelegenheiten von öffentlichem Interesse äußere. Ausgehend von diesen Überlegungen kam der EGMR zu dem Schluss, dass es keinen Grund gebe, die Ansichten der kroatischen Gerichte durch die Ansichten des Europäischen Gerichtshofs zu ersetzen, zumal die kroatischen Gerichte die notwendige faire Interessenabwägung zwischen dem Recht von Mesić auf Respektierung seines Privatlebens und dem Recht des Nachrichtenportals auf freie Meinungsäußerung vorgenommen hatten. Daher könne nicht behauptet werden, dass die kroatischen Gerichte es versäumt hatten, der positiven Verpflichtung nach Artikel 8 EMRK nachzukommen, um die Respektierung der Privatsphäre von Mesić zu wahren, insbesondere sein Recht auf Schutz seines guten Rufs.

Mit fünf Stimmen gegen zwei entschied der EGMR, dass keine Verletzung von Artikel 8 EMRK vorlag. Die beiden Richter mit abweichender Meinung argumentierten, dass die Schlussfolgerung der Mehrheit von "einem sehr niedrigen Standard" für den Schutz der Persönlichkeitsrechte ausgehe und dass der Artikel nicht den Standards eines "verantwortlichen Journalismus" entspreche.


Referenzen

  • Judgment by the European Court of Human Rights, Second Section, in the case of Mesić v. Croatia (no. 2), Application no. 45066/17, 30 May 2023
  • https://hudoc.echr.coe.int/eng?i=001-224963
  • Entscheidung des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, zweite Sektion, in der Rechtssache Mesić gegen Kroatien (Nr. 2), Beschwerdenr. 45066/17, 30. Mai2023

Dieser Artikel wurde in IRIS Rechtliche Rundschau der Europäischen Audiovisuellen Informationsstelle veröffentlicht.