Luxemburg
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (Große Kammer): Halet gegen Luxemburg
IRIS 2023-4:1/23
Dirk Voorhoof
Menschenrechtszentrum, Universität Gent und Legal Human Academy
Am 14. Februar 2023 hat die Große Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) ein Urteil erlassen, das Whistleblower, die ihren Anspruch auf Schutz ihres in Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) garantierten Rechts auf freie Meinungsäußerung und Informationsfreiheit geltend machen, in hohem Maße schützt. Die Große Kammer stützte sich auf ihre frühere Rechtsprechung, bezog die seit dem Urteil im Fall Guja im Jahr 2008 eingetretenen Entwicklungen ein (IRIS 2008-6/1) und wandte die Kriterien zum Schutz von Whistleblowern mit Blick auf den derzeitigen europäischen und internationalen Rechtsrahmen an. In dem Urteil wurde auf den Platz Bezug genommen, den Whistleblower in demokratischen Gesellschaften nunmehr einnehmen, sowie auf die führende Rolle, die ihnen zukommt, wenn es darum geht, Informationen, die von öffentlichem Interesse sind, ans Licht zu bringen. Nachdem eine Kammer der Dritten Sektion des EGMR am 11. Mai 2021 im vorliegenden Fall keinen Verstoß gegen die Rechte des Whistleblowers festgestellt hatte (wobei zwei Richter eine solide abweichende Meinung darlegten), stellte die Große Kammer mit einer Mehrheit von zwölf zu fünf Stimmen einen Verstoß gegen die Rechte des Beschwerdeführers gemäß Artikel 10 der EMRK fest. Die Große Kammer war der Ansicht, dass das öffentliche Interesse an der Offenlegung dieser Informationen alle sich daraus ergebenden nachteiligen Auswirkungen überwiege.
In dem Fall ging es um einen der Whistleblower, die unerlaubt vertrauliche Dokumente weitergegeben und dadurch den LuxLeaks-Skandal ausgelöst hatten. Die LuxLeaks-Enthüllungen offenbarten äußerst vorteilhafte Steuervereinbarungen zwischen multinationalen Unternehmen und den Luxemburger Steuerbehörden. Nach Medienberichten über die Praktiken solcher verbindlichen Vorbescheide (Advance Tax Rulings – ATAs) in Luxemburg auf der Grundlage einer großen Menge an Unterlagen, die vom Whistleblower Antoine Deltour unerlaubt weitergegeben wurden, übergab ein weiterer Angestellter des Unternehmens PricewaterhouseCoopers (PwC), Raphaël Halet, einem Journalisten einige zusätzliche vertrauliche Unterlagen, die weitere Belege für ATAs lieferten. Einige dieser geleakten Dokumente wurden in einer Fernsehsendung gezeigt und später von einer Journalistenvereinigung, dem Internationalen Netzwerk investigativer Journalisten (ICIJ), ins Internet gestellt. Nach einer Klage seines Arbeitgebers wurde Halet vom Luxemburger Appellationshof zur Zahlung einer Geldstrafe von EUR 1.000 verurteilt sowie zur Zahlung eines symbolischen Betrags von EUR 1 als Entschädigung für den immateriellen Schaden, den sein Arbeitgeber PwC erlitten hat. Halet wurde der Straftatbestände des Diebstahls, des anfänglichen und fortgesetzten missbräuchlichen Zugriffs auf ein Datenverarbeitungs- oder automatisiertes Datenübertragungssystem, der Verletzung des Berufsgeheimnisses und des Waschens der Erträge aus dem Diebstahl von seinem Arbeitgeber für schuldig befunden. In der Zwischenzeit wurde er zudem von PwC entlassen. Nach Ausschöpfung aller innerstaatlichen Rechtsmittel und nachdem eine Kammer der Dritten Sektion des EGMR keinen Verstoß gegen Halets Rechte gemäß Artikel 10 der EMRK festgestellt hatte, wurde der Fall auf Antrag von Halet an die Große Kammer des EGMR verwiesen. In dem Urteil wurden ausführliche Gründe dafür angegeben, warum der Eingriff der luxemburgischen Behörden in Halets Recht als Whistleblower ein Verstoß gegen Artikel 10 der EMRK war.
Der EGMR bekräftigte erneut, dass der Schutz der freien Meinungsäußerung am Arbeitsplatz ein konsistenter und bewährter Ansatz in seiner Rechtsprechung sei, durch die sukzessive das Erfordernis eines besonderen Schutzes festgestellt wurde, der – unter gewissen Bedingungen – Bediensteten (im öffentlichen Sektor) und Angestellten (im Privatsektor) zur Verfügung stehen sollte, die unter Verstoß der für sie geltenden Vorschriften vertrauliche Informationen, die sie an ihrem Arbeitsplatz erhalten haben, offenlegen. Die Schutzregelung in Bezug auf die freie Meinungsäußerung von Whistleblowern sei voraussichtlich anwendbar, wenn betroffene Angestellte oder Bedienstete die einzigen Personen sind oder zu einer kleinen Gruppe von Personen gehören, die wissen, was am Arbeitsplatz geschieht und somit am besten in der Lage sind, im öffentlichen Interesse zu handeln, indem sie ihren Arbeitgeber oder die breite Öffentlichkeit warnen. Der Schutz, den Whistleblower gemäß Artikel 10 der EMRK genießen, beruhe auf der Notwendigkeit, Merkmale zu berücksichtigen, die für das Bestehen einer arbeitsbezogenen Beziehung kennzeichnend sind: Einerseits die Pflicht zur Loyalität, Zurückhaltung und Verschwiegenheit, die mit der damit einhergehenden untergeordneten Beziehung verbunden sind, sowie gegebenenfalls die Verpflichtung zur Einhaltung einer gesetzlichen Geheimhaltungspflicht; und andererseits die Position der wirtschaftlichen Verwundbarkeit gegenüber der Person, öffentlichen Einrichtung oder dem Unternehmen, von der oder dem sie in Bezug auf die Beschäftigung abhängig sind, und das Risiko, Vergeltungsmaßnahmen durch Letztere zu erleiden. Unter Bezugnahme auf die seit dem Urteil im Fall Guja eingetretenen Entwicklungen, den Platz, den Whistleblower nunmehr in demokratischen Gesellschaften innehaben, sowie die Entwicklung des europäischen und internationalen Rechtsrahmens für den Schutz von Whistleblowern ergriff die Große Kammer die Gelegenheit, die sechs Kriterien, die im Urteil im Fall Guja ermittelt wurden, zu bestätigen, zu konsolidieren und zu verfeinern: (1) ob alternative Wege für die Offenlegung verfügbar waren oder nicht; (2) die Zuverlässigkeit der offengelegten Informationen; (3) ob der Whistleblower in gutem Glauben gehandelt hatte; (4) das öffentliche Interesse an den offengelegten Informationen; (5) der Schaden für den Arbeitgeber; und (6) die Schwere der Strafmaßnahme.
Der EGMR bekräftigte, dass der interne hierarchische Weg grundsätzlich das beste Mittel sei, um die Pflicht zur Loyalität von Angestellten mit dem öffentlichen Interesse, dem durch die Offenlegung gedient wird, in Einklang zu bringen. Allerdings sei die Rangfolge zwischen internen und externen Meldewegen keine absolute. Derartige interne Mechanismen müssten vorhanden sein und ordnungsgemäß funktionieren. Externe Meldungen, darunter Offenlegungen gegenüber Journalisten oder den Medien, seien akzeptabel, wenn die internen Meldewege unzuverlässig oder unwirksam sind, wenn der oder die Whistleblower/in wahrscheinlich Vergeltungsmaßnahmen ausgesetzt würde oder wenn die Informationen, die er oder sie offenlegen möchte, den Kern der Tätigkeit des entsprechenden Arbeitgebers betreffen.
Wenn ein/e Whistleblower/in sorgfältig Maßnahmen ergriffen hat, um nach Möglichkeit die Zuverlässigkeit der offengelegten Informationen zu prüfen, sollte ihm oder ihr der durch Artikel 10 der EMRK garantierte Schutz nicht allein deshalb verwehrt werden, weil die Informationen sich später als unzutreffend erweisen. Whistleblower, die den Schutz von Artikel 10 der EMRK genießen möchten, müssten sich verantwortungsvoll verhalten, indem sie versuchen, so weit wie möglich zu prüfen, ob die Informationen, deren Offenlegung sie anstreben, zuverlässig sind, bevor sie sie publik machen.
Im Hinblick auf das Kriterium des guten Glaubens bestätigte der EGMR, dass er bei der Bewertung des guten Glaubens eines/einer Beschwerdeführenden prüfe, ob er oder sie durch den Wunsch nach einem persönlichen Vorteil motiviert war, irgendeinen persönlichen Groll gegen seinen oder ihren Arbeitgeber hegte oder ob es irgendeinen anderen Hintergedanken für die entsprechenden Handlungen gab. Guter Glaube könne angenommen werden, wenn ein/e Whistleblower/in glaubt, dass die offengelegten Informationen wahr sind und dass es in öffentlichem Interesse war, sie offenzulegen. Dagegen könne, wenn die Anschuldigungen ohne Vorlage von Beweismaterial auf einem bloßen Gerücht beruhen, nicht davon ausgegangen werden, dass ein/e Whistleblower/in in gutem Glauben gehandelt habe.
Die maßgeblichste „Verfeinerung“ der Grundsätze aus dem Fall Guja war jene des Kriteriums, dass die Offenlegung von öffentlichem Interesse sein muss. Die Große Kammer stellte klar, dass die Bandbreite an Informationen von öffentlichem Interesse, die Whistleblowing rechtfertigen können, das durch Artikel 10 der EMRK gedeckt ist, die Offenlegung rechtswidriger Handlungen, Praktiken oder entsprechenden Verhaltens am Arbeitsplatz oder von Handlungen, Praktiken oder Verhalten umfasse, die – obgleich legal – verwerflich sind. Darüber hinaus könnten auch bestimmte Informationen eingeschlossen sein, welche die Funktionsweise von Behörden in einer demokratischen Gesellschaft betreffen und eine öffentliche Debatte auslösen, die zu Kontroversen führt, die geeignet sind, ein legitimes Interesse aufseiten der Öffentlichkeit zu erzeugen, Kenntnis von diesen Informationen zu haben, um zu einer fundierten Meinung darüber zu gelangen, ob sie einen Schaden für das öffentliche Interesse erkennen lassen oder nicht. Und obgleich Informationen, die als solche von öffentlichem Interesse betrachtet werden können, grundsätzlich Behörden oder öffentliche Einrichtungen beträfen, könnten sie auch das Verhalten von Privatparteien wie Unternehmen zum Gegenstand haben, die sich ebenfalls zwangsläufig und wissentlich einer genauen Überprüfung ihrer Handlungen aussetzen. Der EGMR betonte, dass das öffentliche Interesse an Informationen nicht nur auf nationaler Ebene bewertet werden könnte, da einige Arten von Informationen auf einer überstaatlichen – europäischen oder internationalen – Ebene oder für andere Staaten und ihre Bevölkerung von öffentlichem Interesse sein können. Er wies zudem darauf hin, dass das öffentliche Interesse an der Offenlegung vertraulicher Informationen im Zusammenhang mit Whistleblowing in Abhängigkeit davon abnehme, ob die offengelegten Informationen sich auf rechtswidrige Handlungen oder Praktiken, auf verwerfliche Handlungen, Praktiken oder entsprechendes Verhalten oder auf eine Angelegenheit beziehen, die eine öffentliche Debatte auslöst, die zu Kontroversen im Hinblick darauf führt, ob ein Schaden für das öffentliche Interesse entstanden ist oder nicht.
Das öffentliche Interesse an den offengelegten Informationen müsse außerdem gegen den Schaden für den Arbeitgeber abgewogen werden. Der EGMR bekräftigte erneut, dass das Kriterium des Schadens für den Arbeitgeber ursprünglich im Hinblick auf Behörden oder staatseigene Unternehmen entwickelt worden sei: Der fragliche Schaden sei dann, wie das Interesse an der Offenlegung von Informationen, öffentlicher Natur. Allerdings könnten, wenn es um die Offenlegung von Informationen geht, die im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses gewonnen wurden, auch Privatinteressen betroffen sein, beispielsweise wenn gegen ein Privatunternehmen oder einen Arbeitgeber wegen seiner Tätigkeiten geklagt wird und diesem – und in bestimmten Fällen Dritten – ein finanzieller und/oder Imageschaden entsteht. Nach Auffassung des EGMR sei eine Feinabstimmung der Bedingungen der Abwägung nötig, die zwischen den betreffenden widerstreitenden Interessen vorzunehmen ist.
In Bezug auf das letzte Kriterium bestätigte der EGMR, dass die Art und Schwere der Strafen sowie die kumulative Wirkung der verschiedenen, gegen eine/n Whistleblower/in verhängten Strafen, Faktoren seien, die bei der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit eines Eingriffs in das Recht auf freie Meinungsäußerung berücksichtigt werden müssten.
Bei der Anwendung dieser Grundsätze und Kriterien im vorliegenden Fall gelangte die Große Kammer zu dem Schluss, dass im Urteil des Luxemburger Appellationshofs vor allem das öffentliche Interesse an den offengelegten Informationen und die schädlichen Auswirkungen der Offenlegung nicht angemessen gegeneinander abgewogen wurden. Dagegen habe es keine Diskussion darüber gegeben, dass Halet wohl nur die unmittelbare Inanspruchnahme eines externen Meldewegs als wirksames Mittel zur Warnung zur Verfügung stand, die Dokumente, die er unerlaubt einem Journalisten weitergegeben hatte, zutreffend und zuverlässig waren und er zum Zeitpunkt der betreffenden Offenlegung in gutem Glauben gehandelt hatte. Die Große Kammer stellte fest, dass der Luxemburger Appellationshof das öffentliche Interesse an den offengelegten Informationen zu eng ausgelegt hat, wobei er es auf der anderen Seite gleichzeitig versäumt hat, die Gesamtheit der schädlichen Auswirkungen der betreffenden Offenlegung einzubeziehen, und sich ausschließlich auf den von PwC erlittenen Schaden konzentriert hat. Bezug nehmend auf die Bedeutung – sowohl auf nationaler als auch auf europäischer Ebene – der öffentlichen Debatte über die Steuerpraktiken multinationaler Unternehmen, zu der die von Halet offengelegten Informationen einen wesentlichen Beitrag geleistet haben, war der EGMR der Auffassung, dass das öffentliche Interesse an der Offenlegung dieser Informationen sämtliche schädlichen Auswirkungen überwiege.
Schließlich befasste der EGMR sich mit der Art und Schwere der gegen Halet verhängten Strafmaßnahmen. Nachdem er von seinem Arbeitgeber entlassen wurde – allerdings nachdem ihm fristgerecht gekündigt wurde –, wurde Halet zudem strafrechtlich verfolgt und am Ende eines Strafverfahrens, das beträchtliches Medieninteresse erregte, zu einer Geldstrafe von EUR 1.000 verurteilt. Unter Berücksichtigung der abschreckenden Wirkung einer strafrechtlichen Maßnahme auf die freie Meinungsäußerung von Halet oder sonstigen Whistleblowern und insbesondere eingedenk der bei der Abwägung der betreffenden Interessen gezogenen Schlussfolgerung war die Große Kammer der Ansicht, dass Halets strafrechtliche Verurteilung angesichts des verfolgten legitimen Ziels nicht als verhältnismäßig betrachtet werden könne. Folglich kam der EGMR zu dem Schluss, dass der Eingriff in Halets Recht auf freie Meinungsäußerung, insbesondere seine Freiheit, Informationen weiterzugeben, „in einer demokratischen Gesellschaft“ nicht „notwendig“ war. Dementsprechend liege ein Verstoß gegen Artikel 10 der EMRK vor.
Vier Richterinnen und Richter, die eine abweichende Meinung vertraten, argumentierten, dass die innerstaatlichen Gerichte im vorliegenden Fall sämtliche Beweise berücksichtigt hätten, einschließlich der tatsächlichen Umstände und der in der Rechtsprechung im Fall Guja niedergelegten Kriterien, und dass sie all diese Faktoren gegeneinander abgewogen hätten. Folglich waren die vier Abweichler der Auffassung, dass die Luxemburger Gerichte, indem sie Halet den uneingeschränkten Schutz des Whistleblower-Status verweigerten, innerhalb ihres Ermessensspielraums geblieben seien und der Eingriff in die Rechte von Halet keinen Verstoß gegen Artikel 10 der EMRK darstellte. Der (frühere) dänische Richter widersprach in einer separaten abweichenden Stellungnahme der durch das Gericht erfolgten Weiterentwicklung des Kriteriums des öffentlichen Interesses an den offengelegten Informationen. Er war insbesondere nicht damit einverstanden, dass dieses Konzept auch „eine Angelegenheit“ umfassen könne „die eine öffentliche Debatte auslöst, die zu Kontroversen im Hinblick darauf führt, ob ein Schaden für das öffentliche Interesse entstanden ist oder nicht“.
Referenzen
- Judgment by the European Court of Human Rights, Grand Chamber, the case of Halet v. Luxembourg Application no. 21884/18, 14 February 2023
- https://hudoc.echr.coe.int/eng?i=001-223259
- Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, Große Kammer, im Fall Halet gegen Luxemburg, Beschwerde Nr. 21884/18, 14. Februar 2023
Verknüpfte Artikel
IRIS 2008-6:1/1 Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte: Rechtssache Guja gegen Moldau
Dieser Artikel wurde in IRIS Rechtliche Rundschau der Europäischen Audiovisuellen Informationsstelle veröffentlicht.