Litauen

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (Große Kammer): Macatė gegen Litauen

IRIS 2023-3:1/22

Dirk Voorhoof

Menschenrechtszentrum, Universität Gent und Legal Human Academy

Die Große Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) hat ein Urteil zu Beschränkungen von speziell für Kinder geschriebener Literatur über gleichgeschlechtliche Beziehungen erlassen. Der EGMR stellte fest, dass die gegen ein Märchenbuch für Kinder getroffenen Maßnahmen den Zugang von Kindern zu Informationen einschränken sollten, nach denen gleichgeschlechtliche Beziehungen im Wesentlichen gleichwertig gegenüber verschiedengeschlechtlichen Beziehungen sind. Laut dem EGMR enthielten die Märchen weder explizite sexuelle Inhalte, noch hatten sie gleichgeschlechtliche Familien gegenüber anderen beworben. In den Märchen in dem Buch wurden im Gegenteil die Achtung und die Akzeptanz aller Mitglieder der Gesellschaft in Bezug auf diesen grundlegenden Aspekt ihres Lebens vertreten, nämlich eine verbindliche Beziehung einzugehen. Die Große Kammer des EGMR befand einstimmig, dass die Beschränkung des Zugangs von Kindern zu derartigen Informationen kein Ziel verfolgt, das als legitim anerkannt werden könnte, um den Eingriff in das in Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) garantierte Recht auf freie Meinungsäußerung und Informationsfreiheit zu rechtfertigen.

Der Fall Macatė gegen Litauen betraf ein Kinderbuch mit sechs Märchen, von denen zwei die Heirat zwischen gleichgeschlechtlichen Personen darstellten. Nach seiner Veröffentlichung wurde die Verbreitung des Buchs zeitweise ausgesetzt und später wieder aufgenommen, nachdem das Buch mit einem Warnhinweis versehen worden war, laut dem sein Inhalt für Kinder unter 14 Jahren schädlich sein könnte. Die Verfasserin des Buchs klagte gegen die in Bezug auf das Buch verhängten Maßnahmen und berief sich dabei auf Artikel 10 der EMRK in Verbindung mit Artikel 14 (Diskriminierungsverbot). Nach zahlreichen, langen Gerichtsverfahren auf innerstaatlicher Ebene, die schließlich erfolglos waren, brachte die Verfasserin eine Beschwerde beim EGMR ein. Sie verstarb in der Folge und ihre Mutter und gesetzliche Erbin äußerte den Wunsch, das Verfahren in ihrem Namen weiterzuverfolgen. Die Rechtssache wurde an die Große Kammer abgegeben, da die Auffassung bestand, dass sie schwerwiegende Fragen aufwerfen würde, welche sich auf die Auslegung der Konvention auswirken. Schriftliche Stellungnahmen als Beteiligung Dritter wurden von der Háttér Gesellschaft und gemeinsam von Professor David Kaye, der European Region of the International Lesbian, Gay, Bisexual, Trans and Intersex Association (ILGA-Europe) und ARTICLE 19 eingereicht. Das Urteil enthält 30 Seiten an Informationen über innerstaatliche Rechtsvorschriften und Verfahren in Litauen, internationales Material des Europarates, der Europäischen Union und der Vereinten Nationen sowie vergleichende Darstellungen von Recht und Praxis.

Zunächst brachte die Regierung vor, dass der Verfasserin kein erheblicher Nachteil entstanden sei und dass die Beschwerde deshalb gemäß Artikel 35 Absatz 3 (b) der EMRK zurückgewiesen werden sollte. Die Regierung machte geltend, dass die angefochtenen Maßnahmen die Verfasserin nicht an der Verbreitung ihrer Ideen oder der Teilnahme an der öffentlichen Debatte gehindert hätten. Insbesondere sei die Verbreitung des Buchs nicht verboten worden (lediglich durch den ersten Verlag zeitweise ausgesetzt) und hätten die Warnhinweise nur eine beratende Funktion gehabt, da Eltern, Erziehungsberechtigte oder Lehrkräfte von Kindern sie einfach ignorieren könnten. Darüber hinaus sei eine zweite Ausgabe ohne jegliche Beschränkungen veröffentlicht und vertrieben worden. Der EGMR befand, dass diesem Einwand nicht stattgegeben werden könne, da der Fall schwerwiegende Fragen im Hinblick auf die Achtung der Menschenrechte betreffe, wie sie in der Konvention niedergelegt sind.

Sodann erläuterte der EGMR, warum sowohl die zeitweise Aussetzung der Verbreitung des Buchs durch die Bildungswissenschaftliche Universität Litauens als auch die darauffolgende Kennzeichnung mit Warnhinweisen, während die angefochtenen Maßnahmen durch die innerstaatlichen Gerichte geprüft und bestätigt wurden, als Eingriff der Behörden in das Recht auf freie Meinungsäußerung und Informationsfreiheit zu betrachten seien, der unmittelbar aus der innerstaatlichen Gesetzgebung gemäß dem Gesetz zum Schutz von Minderjährigen folge. Der EGMR merkte an, dass die Verbreitung des Buchs für ein Jahr ausgesetzt und es während dieser Zeit aus den Buchhandlungen zurückgerufen worden sei. Die Tatsache, dass das Buch in den öffentlichen Bibliotheken und – für einige Zeit – online verfügbar blieb, habe nicht verhindert, dass der Rückruf des Buchs aus den Buchhandlungen zweifellos seine Verfügbarkeit für die Leserinnen und Leser verringerte. Der EGMR führte außerdem aus, warum die Warnhinweise, obgleich sie lediglich eine beratende Funktion hatten, wahrscheinlich eine beträchtliche Anzahl von Eltern und Erziehungsberechtigten davon abgehalten hätten, ihren Kindern unter 14 Jahren die Lektüre des Buchs zu erlauben, besonders angesichts des Fortbestehens von stereotypen Vorstellungen, Vorurteilen, Feindseligkeit und Diskriminierung in Bezug auf die LGBTI-Gemeinschaft in Litauen. Folglich war der EGMR der Auffassung, die Tatsache, dass das Buch als schädlich für die Altersgruppe gekennzeichnet wurde, für die es bestimmt war, beeinträchtigte die Möglichkeit der Verfasserin, ihre Ideen uneingeschränkt weiterzugeben.. Die gegen ein Kinderbuch, das verschiedene Minderheiten darstellte, verhängten Beschränkungen, insbesondere seine Kennzeichnung als schädlich für Minderjährige unter 14 Jahren, hätten auch den Ruf der Verfasserin beschädigt und seien geeignet, sie und andere Verfasserinnen und Verfasser von der Veröffentlichung ähnlicher Literatur abzuhalten, und erzeugten dadurch eine abschreckende Wirkung.

Nachdem der EGMR anerkannte, dass die Maßnahmen gegen das Kinderbuch eine Rechtsgrundlage im Sinne von Artikel 10, Absatz 2 der EMRK hatten, konzentrierte er sich auf die Frage, ob die Maßnahmen auf der Grundlage des Gesetzes zum Schutz von Minderjährigen ein legitimes Ziel hatten. Was zunächst den angeblich expliziten sexuellen Charakter eines der beiden Märchen angeht, nahm die Regierung Bezug auf die Feststellungen des Regionalgerichts Vilnius, das der Ansicht war, dass die Passage über die Prinzessin und die Tochter des Schuhmachers, die in der Nacht nach ihrer Hochzeit sich in den Armen liegend schliefen, fleischliche Liebe für Kinder zu offen darstellte. Der EGMR konnte dagegen nicht nachvollziehen, inwiefern die betreffende Passage als explizit sexuell angesehen werden konnte. Folglich konnte sich der EGMR dem Argument der Regierung nicht anschließen, dass das Ziel der angefochtenen Maßnahme der Schutz von Kindern vor Informationen war, die explizit sexuell sind. Der EGMR war außerdem der Auffassung, dass die Behauptung der Regierung, dass die Verfasserin verschiedengeschlechtliche Beziehungen „beschimpfen“, „herabsetzen“ oder „schlechtmachen“ wollte, keinen Rückhalt im Text des Buchs finde. Er stellte fest, dass das Kinderbuch Charaktere verschiedener Ethnien mit unterschiedlichen körperlichen und geistigen Fähigkeiten, die unter verschiedenen sozialen und materiellen Umständen leben, enthielt, die alle liebevoll sind und Liebe verdienen. Der EGMR war der Ansicht, dass das Ziel der gegen das Buch der Verfasserin ergriffenen Maßnahmen darin bestand, Kindern Informationen zu verwehren, nach denen gleichgeschlechtliche Beziehungen im Wesentlichen verschiedengeschlechtlichen Beziehungen gleichwertig gegenüber stehen.

Die Große Kammer unterstützte uneingeschränkt die Feststellung im Fall Bajew u. a. gegen Russland (20. Juni 2017), in dem die Dritte Sektion des Gerichts der Ansicht war, dass ein gesetzliches Verbot der „Förderung von Homosexualität oder nicht traditioneller sexueller Beziehungen“ unter Minderjährigen nicht der Förderung der legitimen Ziele des Schutzes der Moral, Gesundheit oder der Rechte anderer diente, und dass die Behörden durch die Verabschiedung derartiger Gesetze Stigmatisierung und Vorurteile verstärkt und Homophobie geschürt hätten, was unvereinbar mit den Gedanken der Gleichheit, des Pluralismus und der Toleranz sei, die charakteristisch für eine demokratische Gesellschaft sind. Sie stellte allerdings fest, dass der vorliegende Fall der erste war, in dem der EGMR aufgefordert worden war, Beschränkungen zu bewerten, die gegen Literatur über gleichgeschlechtliche Beziehungen verhängt wurden, die sich direkt an Kinder richtete und in einem Stil und einer Sprache geschrieben wurde, die für sie leicht zugänglich ist. Auf der Grundlage einer ausführlicheren Analyse des Inhalts des Buchs und des Kontextes des Falls und im Bewusstsein, dass in allen Entscheidungen, die Kinder – direkt oder indirekt – betreffen, ihr Wohl eine vorrangige Erwägung darstellt, befand der EGMR, dass die Maßnahmen gegen das Kinderbuch kein legitimes Ziel verfolgten. Laut dem EGMR gibt es keine wissenschaftlichen Erkenntnisse oder soziologischen Daten, die nahelegen, dass die bloße Erwähnung von Homosexualität oder die öffentliche Debatte über den sozialen Status sexueller Minderheiten negative Auswirkungen auf Kinder haben. In ähnlicher Weise hätten verschiedene internationale Organe, wie die Parlamentarische Versammlung, die Venedig-Kommission, die ECRI, das Europäische Parlament und der unabhängige UN-Experte für sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität, Gesetze, die den Zugang von Kindern zu Informationen über verschiedene sexuelle Orientierungen beschränken sollen, mit der Begründung kritisiert, dass es keine wissenschaftlichen Erkenntnisse gebe, dass derartige Informationen, wenn sie auf objektive und altersgerechte Weise präsentiert werden, Kindern irgendeinen Schaden zufügen könnten. Die betreffenden Organe hätten im Gegenteil betont, dass der Mangel an derartigen Informationen und die fortwährende Stigmatisierung von LGBTI-Personen in der Gesellschaft schädlich für Kinder seien. Darüber hinaus stellte der EGMR fest, dass die Gesetze einer beträchtlichen Anzahl von Mitgliedsstaaten des Europarates entweder ausdrücklich die Aufnahme von Unterrichtseinheiten über gleichgeschlechtliche Beziehungen in den Lehrplan vorsehen oder Bestimmungen enthalten, welche die Achtung der Vielfalt und das Verbot von Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung im Unterricht gewährleisten. Gesetzliche Bestimmungen, die ausdrücklich den Zugang von Minderjährigen zu Informationen über Homosexualität oder gleichgeschlechtliche Beziehungen beschränken, seien nur in einem Mitgliedsstaat vorhanden (Ungarn).

Schließlich merkte der EGMR an, dass er wiederholt festgestellt hat, dass Pluralismus, Toleranz und eine aufgeschlossene Haltung die Kennzeichen einer demokratischen Gesellschaft sind. Er stellte klar, dass gleicher und gegenseitiger Respekt für Personen verschiedener sexueller Orientierungen für die gesamte Struktur der EMRK charakteristisch sei. Verbindliche Beziehungen zwischen gleichgeschlechtlichen Personen als im Wesentlichen gleichwertig gegenüber jenen zwischen verschiedengeschlechtlichen Personen darzustellen, wie es die Verfasserin in ihren Werken tat, fördere in der Tat die Achtung aller Mitglieder einer Gesellschaft in Bezug auf diesen grundlegenden Aspekt ihres Lebens. Folglich befand der EGMR, dass in Fällen, in denen Beschränkungen des Zugangs von Kindern zu Informationen über gleichgeschlechtliche Beziehungen ausschließlich auf Erwägungen in Bezug auf die sexuelle Orientierung beruhen – das heißt, wenn keine anderweitige Grundlage vorhanden ist, um derartige Informationen als unangemessen oder schädlich für das Aufwachsen und die Entwicklung von Kindern zu betrachten –, diese kein Ziel verfolgen, das als legitim im Sinne von Artikel 10, Absatz 2 der EMRK anerkannt werden kann, und daher nicht mit Artikel 10 vereinbar sind. Aus diesen Gründen kam die Große Kammer einstimmig zu dem Schluss, dass die gegen das Buch der Verfasserin verhängten Maßnahmen den Zugang von Kindern zu Informationen beschränken sollten, nach denen gleichgeschlechtliche Beziehungen als im Wesentlichen gleichwertig gegenüber verschiedengeschlechtlichen Beziehungen sind, und dass die Kennzeichnung derartiger Informationen als schädlich, kein legitimes Ziel gemäß Artikel 10, Absatz 2 der EMRK verfolgte. Dementsprechend lag ein Verstoß gegen Artikel 10 der EMRK vor. Eine Mehrheit von zwölf zu fünf befand, dass keine Notwendigkeit bestand, die Beschwerde der Verfasserin im Rahmen von Artikel 14 der EMRK separat zu untersuchen, die in Verbindung mit Artikel 10 erfolgte.


Referenzen

  • Judgment by the European Court of Human Rights, Grand Chamber, the case of Macatė v. Lithuania, Application no. 61435/19, 23 January 2023
  • https://hudoc.echr.coe.int/eng#{%22itemid%22:[%22001-222072%22]}
  • Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, Große Kammer, im Fall Macatė gegen Litauen, Beschwerde Nr. 61435/19, 23. Januar 2023

Dieser Artikel wurde in IRIS Rechtliche Rundschau der Europäischen Audiovisuellen Informationsstelle veröffentlicht.