Rumänien
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte: Pretorian gegen Rumänien
IRIS 2022-7:1/19
Dirk Voorhoof
Menschenrechtszentrum, Universität Gent und Legal Human Academy
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat in seiner Entscheidung in einer Rechtssache gegen den rumänischen Staat keine Verletzung des Rechts auf freie Meinungsäußerung nach Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention festgestellt. Bei dem Fall ging es um die Verurteilung eines Chefredakteurs wegen der Veröffentlichung von Artikeln, die diffamierende Äußerungen über einen rumänischen Politiker enthielten. Die Artikel waren sowohl in der Printausgabe der betreffenden Wochenzeitung als auch in der Online-Ausgabe erschienen. Der EGMR kam nach seiner Prüfung der Urteile zu dem Schluss, dass die rumänischen Gerichte korrekt vorgegangen waren und bei ihrer Entscheidung eine Abwägung zwischen dem Recht auf Achtung des Privatlebens und des guten Rufs nach Artikel 8 EMRK und dem Recht auf Freiheit der Meinungsäußerung nach Artikel 10 EMRK vorgenommen hatten. Der EGMR bezog sich vor allem auf die Tatsache, dass die beiden Artikel, um die es ging, schwerwiegende Anschuldigungen enthielten, die eine Verletzung des Rechts auf Achtung des Privatlebens und des guten Rufs des Politikers darstellten, zumal keine Beweise für diese Behauptungen vorgelegt wurden. Darüber hinaus beruhten einige der beleidigenden und abwertenden Äußerungen über den Politiker auf bloßen Gerüchten, und die Verbreitung der unbegründeten Behauptungen über das Internet trug zu einer Verstärkung der Auswirkungen bei, da die Artikel über Suchmaschinen zugänglich waren.
Bei dem Beschwerdeführer handelte es sich um Cosmin-Adrian Pretorian, den Chefredakteur der regionalen Wochenzeitung Indiscret in Oltenien, einer Region im Südwesten Rumäniens. 2014 hatte die Zeitung einen Artikel über H.B. veröffentlicht, einen ehemaligen Abgeordneten des rumänischen Parlaments und früheren Vorsitzenden des Regionalverbands der Liberalen Partei. In einer der nächsten Ausgaben druckte die Wochenzeitung die Antwort von H.B. ab, zusammen mit einem zweiten Artikel des Chefredakteurs. Der Artikel hatte einen satirischen Charakter und enthielt eine Reihe von beleidigenden Äußerungen über den Politiker, unter anderem sexuelle Unterstellungen und Anspielungen auf den mutmaßlichen Alkoholmissbrauch von H.B. Der Politiker verklagte den Journalisten wegen Verleumdung vor dem Bezirksgericht Craiova. Das Gericht gab der Klage von H.B. teilweise statt und verurteilte den Journalisten zur Zahlung von 15.000 RON (etwa 3.200 EUR) Schadensersatz als Entschädigung für den immateriellen Schaden, den der Lokalpolitiker erlitten hatte. Es verurteilte den Chefredakteur außerdem zur Veröffentlichung des Gerichtsurteils in der Wochenzeitung. Die Berufung von Cosmin-Adrian Pretorian wurde abgewiesen.
Anschließend wandte sich der Chefredakteur an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte mit der Begründung, dass die rumänischen Gerichte sein Recht auf freie Meinungsäußerung nach Artikel 10 EMRK verletzt hatten. Der EGMR stellte fest, dass die Anschuldigungen gegen H.B. so schwerwiegend waren, dass die Anwendung von Artikel 8 EMRK ausgelöst wurde. Er berücksichtigte auch, dass das Bezirksgericht eine Abwägung der konkurrierenden Grundrechte vorgenommen hatte und bei seiner Entscheidung die Kriterien zugrunde gelegt hatte, die der europäische Gerichtshof in seiner Rechtsprechung entwickelt hat. Auf dieser Grundlage war das Bezirksgericht zu dem Schluss gekommen, dass einige der Äußerungen über den Politiker in den Artikeln den Tatbestand einer Beleidigung erfüllten und daher einen Eingriff in die Privatsphäre des Politikers darstellten und seine Ehre und seinen guten Ruf verletzt hatten. Diesen Erkenntnissen war auch das Berufungsgericht gefolgt.
Der EGMR stellte weiter fest, dass die beiden Artikel einen Beitrag zu einer Debatte von öffentlichem Interesse darstellten, da es sich bei H.B. um einen Amtsträger und bekannten Lokalpolitiker handelte. Bei den Äußerungen in beiden Artikeln handelte es sich um Werturteile, die in vulgärer Sprache formuliert waren, und nicht um Ansichten, die in gutem Glauben über die moralischen und beruflichen Werte von H.B. geäußert wurden. Der EGMR erkannte an, dass einige der Äußerungen in den Artikeln durchaus satirische Stilmerkmale aufwiesen, aber es sah keinen Grund, von den Entscheidungen der rumänischen Gerichte abzuweichen, zumal andere Äußerungen, vor allem die sexuellen Unterstellungen und Kommentare eindeutig eine Beleidigung darstellten. Außerdem stellte der EGMR fest, dass der Chefredakteur sich bei seinen Aussagen über den Alkoholkonsum von H.B. auf Gerüchte gestützt hatte und sich nicht die Mühe gemacht hatte, den Wahrheitsgehalt zu überprüfen. Gerüchte, so das Gericht, dürften jedoch keine faktische Grundlage für derart schwerwiegende und stigmatisierende Anschuldigungen darstellen. Der EGMR fand auch, dass die Strafe, die das Gericht gegen den Chefredakteur verhängt hatte, überaus mild ausgefallen war und keine abschreckende Wirkung auf die Wahrnehmung des Rechts auf freie Meinungsäußerung des Journalisten haben könne. Der EGMR stellte auch fest, dass die rumänischen Gerichte korrekt vorgegangen waren und eine Abwägung der konkurrierenden Rechte vorgenommen hatten. Außerdem hätten sie sich bei ihrer Entscheidung an den Kritierien orientiert, die der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in seiner Rechtsprechung entwickelt hat. Der EGMR wies vor allem auf die schwerwiegenden Auswirkungen hin, welche die beleidigenden Äußerungen auf das Privatleben und auf die berufliche Karriere von H.B. hatten, da die Artikel auch über das Internet verbreitet worden waren. Der EGMR verwies auf das Urteil der Großen Kammer in der Rechtssache Delfi gegen Estland, in der der Gerichtshof festgestellt hatte, dass "die Gefahr eines Schadens durch die Verbreitung von Inhalten und Aussagen im Internet für die Wahrnehmung der Menschenrechte und Grundfreiheiten, insbesondere das Recht auf Achtung des Privatlebens, zweifellos sehr viel größer ist als in den Printmedien" (siehe auch IRIS 2015-7/1), und auf sein Urteil in der Sache M.L. und W.w. gegen Deutschland. Darin hatte der Gerichtshof die Wirkung berücksichtigt, die die "wichtige Rolle von Suchmaschinen" auf das Recht auf Achtung des Privatlebens hat. (IRIS 2018-8/1). Aus diesem Grund kam der EGMR zu dem Schluss, dass die Verurteilung Pretorians in einer demokratischen Gesellschaft erstens notwendig war und dass zweitens das Verhältnis zwischen der Strafe und dem legitimen Ziel, das damit verfolgt wurde, angemessen war. Der EGMR kam einstimmig zu dem Schluss, dass keine Verletzung von Artikel 10 EMRK vorlag.
Referenzen
- Arrêt de la Cour européenne des droits de l'homme, quatrième section, rendu le 24 mai 2022 dans l’affaire Pretorian c. Roumanie, requête n° 45014/16
- https://hudoc.echr.coe.int/eng?i=001-217389
- Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, Vierte Abteilung, in der Rechtssache Pretorian gegen Rumänien - 45014/16, 24. Mai 2022
Verknüpfte Artikel
IRIS 2015-7:1/1 Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte: Delfi AS gegen Estland (Große Kammer)
IRIS 2018-8:1/1 Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte: M. L. und W. W. gegen Deutschland
Dieser Artikel wurde in IRIS Rechtliche Rundschau der Europäischen Audiovisuellen Informationsstelle veröffentlicht.