Republik Türkiye
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte: Vedat Şorli gegen die Türkei
IRIS 2022-1:1/16
Dirk Voorhoof
Menschenrechtszentrum, Universität Gent und Legal Human Academy
Erneut hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in einem Fall gegen die Türkei einen Verstoß gegen das durch Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) garantierte Recht auf freie Meinungsäußerung festgestellt. Diesmal befand der EGMR, dass die Untersuchungshaft und strafrechtliche Verurteilung wegen Beleidigung des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan in zwei Postings auf Facebook einen Verstoß gegen das Recht auf (politische) Meinungsfreiheit darstellen.
Der Fall betrifft das gegen Vedat Şorli wegen Beleidigung des Präsidenten der Türkischen Republik eingeleitete Strafverfahren. Grund waren zwei satirische Postings, die er 2014 und 2016 auf seinem Facebook-Konto teilte. Das erste Facebook-Posting bestand in einer Karikatur mit der Darstellung des früheren US-Präsidenten Barack Obama, der den Präsidenten der Türkischen Republik küsste, welcher in Frauenkleidung abgebildet war. Eine Sprechblase über dem Bild des türkischen Präsidenten enthielt die folgenden, auf Kurdisch geschriebenen Worte: „Wirst Du das Eigentum an Syrien in meinem Namen eintragen lassen, mein lieber Ehemann?“. Das zweite Posting enthielt Fotos des Präsidenten und des früheren Ministerpräsidenten der Türkei, unter denen die folgenden Kommentare geschrieben standen: „Möge eure durch Blut befeuerte Macht in den Tiefen der Erde begraben werden /Mögen die Ämter, an denen ihr festhaltet, indem ihr Leben nehmt, in den Tiefen der Erde begraben werden /Mögen die Luxusleben, die ihr dank gestohlener Träume führt, in den Tiefen der Erde begraben werden /Mögen deine Präsidentschaft, deine Macht und deine Ambitionen in den Tiefen der Erde begraben werden“. Şorli kam für zwei Monate und zwei Tage in Untersuchungshaft und wurde 2017 anschließend zu einer Gefängnisstrafe von 11 Monaten und 20 Tagen verurteilt. Die Strafe wurde für fünf Jahre zur Bewährung ausgesetzt: Wenn der Beschwerdeführer in dieser Zeit keine vorsätzliche Straftat begeht, würde die Verurteilung aufgehoben und der Fall von der Liste gestrichen.
Unter Berufung auf Artikel 10 der EMRK klagte Şorli vor dem EGMR gegen seine Untersuchungshaft und das gegen ihn eingeleitete Strafverfahren. Er machte geltend, dass die Inhalte, die er auf Facebook geteilt hatte, kritische Kommentare zu aktuellen politischen Entwicklungen darstellten und dass der Eingriff in sein Recht auf freie Meinungsäußerung unverhältnismäßig sei und eine abschreckende Wirkung habe. Der EGMR stellte fest, dass der beanstandete Eingriff gesetzlich vorgeschrieben war und das legitime Ziel des Schutzes des guten Rufs und der Rechte anderer Personen verfolgte. Die innerstaatlichen Gerichte hätten ihre Entscheidung auf Artikel 299 des Strafgesetzbuches gestützt, welcher dem Präsidenten der Republik im Hinblick auf die Verbreitung von entsprechenden Informationen oder Meinungen ein höheres Schutzniveau gewährt als anderen Personen – die durch die üblichen Bestimmungen zur Diffamierung geschützt sind. Insbesondere Artikel 299 des Strafgesetzbuchs lege schwerere Strafen für Personen fest, die diffamierende Äußerungen über den Präsidenten der Republik tätigen. Der EGMR war der Ansicht, dass die Gewährung erhöhten Schutzes mittels einer speziellen Rechtsvorschrift zur Beleidigung in der Regel nicht mit dem Geist der Konvention oder mit dem Interesse eines Staates am Schutz des Rufs seines Staatsoberhaupts in Einklang stünde. Während es völlig legitim sei, dass Personen, welche die Institutionen des Staates repräsentieren, als Garanten der institutionellen öffentlichen Ordnung durch die zuständigen Behörden geschützt werden, verlange die beherrschende Stellung dieser Institutionen, dass die Behörden beim Rückgriff auf ein Strafverfahren Zurückhaltung üben. Im vorliegenden Fall seien Şorlis Festnahme durch die Polizei, die Anordnung seiner Untersuchungshaft und die Verhängung einer strafrechtlichen Sanktion trotz der Tatsache, dass die Verkündung des Urteils, durch das die Gefängnisstrafe verhängt wurde, ausgesetzt wurde, durch nichts zu rechtfertigen gewesen. Eine derartige Sanktion hätte ihrem Wesen nach zwangsläufig eine abschreckende Wirkung auf die Bereitschaft der betroffenen Person, ihre Ansichten zu Angelegenheiten von öffentlichem Interesse auszudrücken, besonders in Anbetracht der Auswirkungen einer strafrechtlichen Verurteilung. Außerdem hätte die türkische Regierung keine Beweise vorgebracht, um zu belegen, dass das Strafverfahren gegen Şorli durch den Notstand, der nach dem versuchten Militärputsch vom 15. Juli 2016 erklärt worden war, notwendig wurde.
Dementsprechend habe die beanstandete Maßnahme im vorliegenden Fall und in Anbetracht der Sanktion strafrechtlicher Art, die gemäß einer Sonderbestimmung gegen Şorli verhängt wurde, welche dem Präsidenten der Republik einen erhöhten Schutz vor Beleidigung gewährt, was nicht als im Einklang mit dem Geist der Konvention stehend angesehen werden kann, nicht in einem angemessenen Verhältnis zu den verfolgten, legitimen Zielen gestanden und sei in einer demokratischen Gesellschaft nicht notwendig. Folglich stellte der EGMR einstimmig einen Verstoß gegen Artikel 10 der EMRK fest.
Referenzen
- Arrêt de la Cour européenne des droits de l'homme, deuxième section, rendu le 19 octobre 2021 dans l'affaire Vedat Şorli c. Turquie, requête n° 42048/19
- https://hudoc.echr.coe.int/eng?i=001-212394
- Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Zweite Sektion, im Fall Vedat Şorli gegen die Türkei, Beschwerde Nr. 42048/19, 19. Oktober 2021
Dieser Artikel wurde in IRIS Rechtliche Rundschau der Europäischen Audiovisuellen Informationsstelle veröffentlicht.