Polen
Generalanwalt: Schlussanträge in der Rechtssache C‑401/19
IRIS 2021-8:1/7
Francisco Javier Cabrera Blázquez
Europäische Audiovisuelle Informationsstelle
Am 15. Juli 2021 legte Generalanwalt Saugmandsgaard Øe seine mit Spannung erwarteten Schlussanträge in der Rechtssache C‑401/19 vor. Die vorliegende Rechtssache betrifft eine auf Art. 263 AEUV gestützte Klage der Republik Polen vor dem EuGH, Art. 17 Abs. 4 Buchst. b und c letzter Satzteil der Richtlinie (EU) 2019/790 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. April 2019 über das Urheberrecht und verwandte Schutzrechte im digitalen Binnenmarkt und zur Änderung der Richtlinien 96/9/EG und 2001/29/EG oder hilfsweise Art. 17 in vollem Umfang für nichtig zu erklären. Diese Bestimmung verpflichtet Anbieter, die von den Nutzern ihrer Dienste eingestellten Inhalte zu überwachen, um das Hochladen geschützter Werke und sonstiger Schutzgegenstände zu verhindern, die die Rechteinhaber nicht über diese Dienste zugänglich machen wollen. Derartige vorbeugende Überwachung erfolgt in der Regel durch die Filterung dieser Inhalte mit Hilfe von Softwaretools. Eine solche Filterung wirft nach Ansicht der Klägerin komplexe Fragen im Hinblick auf die in Artikel 11 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union („Charta“) garantierte Meinungs- und Informationsfreiheit der Nutzer von Sharing-Diensten auf. Diese vorbeugende Überwachung würde eine Einschränkung der Ausübung des in Artikel 11 der Charta garantierten Rechts auf freie Meinungsäußerung darstellen. Eine derartige Einschränkung sei nicht mit der Charta vereinbar, da sie den „Wesensgehalt“ dieses Grundrechts aushöhle, zumindest aber den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verletze.
In seinen Schlussanträgen erklärt der Generalanwalt, der Unionsgesetzgeber dürfe unter Wahrung des Rechts auf freie Meinungsäußerung bestimmten Online-Vermittlern gewisse Überwachungs- und Filterungspflichten auferlegen, diese Pflichten sollten allerdings mit ausreichenden Schutzvorkehrungen einhergehen, damit die Auswirkungen einer solchen Filterung auf die Meinungsfreiheit so gering wie möglich gehalten werden. Der Unionsgesetzgeber habe einen Ermessensspielraum, um das Recht auf freie Meinungsäußerung mit der Achtung der Rechte des geistigen Eigentums in Einklang zu bringen. Diese neue Regelung berge jedoch ein erhebliches Risiko des „Overblocking“ rechtmäßiger Informationen, und die Verwendung von Tools zur automatischen Inhaltserkennung erhöhe dieses Risiko, da diese Instrumente nicht in der Lage seien, den Kontext zu verstehen, in dem solche Schutzgegenstände reproduziert werden. Der Unionsgesetzgeber müsse daher ausreichende Sicherheitsvorkehrungen treffen, um dieses Risiko zu minimieren. Dementsprechend habe der Unionsgesetzgeber anerkannt, dass die Anbieter von Online-Sharing-Diensten für ein wirksames Recht auf berechtigte Nutzung des Schutzgegenstands nicht alle Inhalte, die den von den Rechteinhabern angegebenen Schutzgegenstand reproduzieren, einschließlich rechtmäßiger Inhalte, vorbeugend sperren dürfen. Es würde nicht ausreichen, wenn die Nutzer im Rahmen eines Beschwerde- und Rechtsbehelfsverfahrens die Möglichkeit hätten, ihre rechtmäßigen Inhalte nach einer solchen vorbeugenden Sperrung wieder hochzuladen. Außerdem könnten diese Anbieter nicht zu Schiedsrichtern der Online-Rechtmäßigkeit gemacht werden, die komplizierte Rechtsfragen entscheiden müssen. Folglich müssten die Anbieter von Sharing-Diensten nur solche Inhalte aufspüren und sperren, die mit dem von den Rechteinhabern angegebenen Schutzgegenstand „identisch“ oder „gleichwertig“ sind, das heißt Inhalte, deren Rechtswidrigkeit angesichts der von den Rechteinhabern übermittelten Informationen als offenkundig angesehen werden kann. In zweideutigen Fällen sollte der betreffende Inhalt nicht Gegenstand einer vorbeugenden Sperrung sein.
Da Art. 17 der Richtlinie 2019/790 ausreichende Schutzvorkehrungen in Bezug auf die Rechte der Nutzer enthält, schlägt der Generalanwalt dem Gerichtshof vor, die Gültigkeit dieser Bestimmung festzustellen und folglich die Klage der Republik Polen abzuweisen.
Im Anschluss an die Ausarbeitung dieser Schlussanträge wurden zwei wichtige Dokumente veröffentlicht:
- Das Urteil in der Rechtssache YouTube und Cyando (siehe IRIS 2021-7:1/4) stellt nach Ansicht des Generalanwalts die in seinen Schlussanträgen angestellten Überlegungen nicht in Frage.
- Die Leitlinien der Kommission zur Anwendung von Artikel 17 der Richtlinie 2019/790 (siehe IRIS 2021-7:1/5) enthalten die Ausführungen der Kommission vor dem Gerichtshof und spiegeln die Erläuterungen in den Nummern 158 bis 219 der Schlussanträge des Generalanwalts wider. Der Generalanwalt ist jedoch nicht mit der Möglichkeit einverstanden, dass Rechteinhaber Schutzgegenstände kennzeichnen, deren unerlaubtes Hochladen „ihnen einen erheblichen wirtschaftlichen Schaden zufügen könnte“. Der Generalanwalt stellt in seinen Schlussanträgen fest: „Sollte dies dahin zu verstehen sein, dass die Anbieter auf die bloße Behauptung der Rechteinhaber hin, dass ihnen erheblicher wirtschaftlicher Schaden drohe, Inhalte ex ante sperren müssten – die Leitlinien enthalten kein weiteres Kriterium, das den Mechanismus der „Kennzeichnung“ auf besondere Fälle beschränkt –, auch wenn sie nicht offenkundig rechtsverletzend sind, kann ich mich dem nicht anschließen. Denn andernfalls wären sämtliche Erwägungen in den vorliegenden Schlussanträgen hinfällig.“
Referenzen
- Opinion of Advocate General Saugmandsgaard Øe delivered on 15 July 2021, Case C‑401/19, Republic of Poland v European Parliament, Council of the European Union
- https://curia.europa.eu/juris/document/document.jsf?text=&docid=244201&pageIndex=0&doclang=en&mode=lst&dir=&occ=first&part=1&cid=2429875
- Schlussanträge des Generalanwalts Saugmandsgaard Øe vom 15. Juli 2021, Rechtssache C401/19, Republik Polen gegen Europäisches Parlament, Rat der Europäischen Union
- https://curia.europa.eu/juris/document/document.jsf?text=&docid=244201&pageIndex=0&doclang=DE&mode=lst&dir=&occ=first&part=1&cid=2429875
Verknüpfte Artikel
IRIS 2021-7:1/4 Gerichtshof der Europäischen Union: Rechtssache Google/Cyando
Dieser Artikel wurde in IRIS Rechtliche Rundschau der Europäischen Audiovisuellen Informationsstelle veröffentlicht.