Schweden
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (Große Kammer): Centrum för Rättvisa gegen Schweden
IRIS 2021-7:1/22
Dirk Voorhoof
Menschenrechtszentrum, Universität Gent und Legal Human Academy
In einem Urteil vom 19. Juni 2018 stellte die Kammer der dritten Sektion des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) fest, dass das massenhafte Abfangen elektronischer Signale in Schweden zu Zwecken der Auslandsaufklärung auf der Grundlage des schwedischen Gesetzes über signalerfassende Aufklärung weder das Recht auf Achtung der Privatsphäre und der Korrespondenz nach Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) noch das Recht auf wirksame Beschwerde nach Artikel 13 EMRK verletzt (siehe IRIS 2018-8/3). Nach der Überweisung an die Große Kammer des EGMR kam diese in ihrem Urteil vom 25. Mai 2021 zu dem endgültigen Schluss, dass die schwedische Regelung zur Massenüberwachung doch einige Mängel aufweist, und stellte eine Verletzung von Artikel 8 EMRK fest. Insbesondere der Mangel an Sicherheiten bei der Entscheidung, nachrichtendienstliches Material an ausländische Partner zu übermitteln, und das Fehlen einer effektiven nachträglichen Überprüfung verletzen das Recht auf Privatsphäre.
Beschwerdeführerin in dieser Rechtssache ist eine schwedische gemeinnützige Menschenrechtsorganisation, das Centrum för Rättvisa (Centrum). In ihrer Beschwerde vor dem Straßburger Gerichtshof brachte sie vor, die schwedische Gesetzgebung und Praxis im Bereich der signalerfassenden Aufklärung und der geheimen Beobachtung verletze fortgesetzt ihre Rechte auf Privatsphäre nach Artikel 8 EMRK. Zudem habe dem Centrum kein wirksamer innerstaatlicher Rechtsbehelf (Artikel 13 EMRK) zur Verfügung gestanden, um gegen diese Verletzung vorzugehen.
Die Große Kammer stellt zunächst fest, dass die innerstaatlichen Rechtsbehelfe, die in Schweden Personen zur Verfügung stehen, die vermuten, dass sie von Massenüberwachungsmaßnahmen betroffen sind, einer Reihe von Einschränkungen unterliegen. Diese eingeschränkte Verfügbarkeit von Rechtsbehelfen könne die Ängste der Öffentlichkeit im Zusammenhang mit der Gefahr einer heimlichen Beobachtung nicht ausreichend zerstreuen. Der EGMR ist der Ansicht, das Centrum müsse keine tatsächliche persönliche Betroffenheit oder einen Opferstatus nachweisen, dem potenziellen Risiko ausgesetzt zu sein, dass seine Kommunikation oder damit verbundene Daten abgefangen und analysiert werden. Eine abstrakte Prüfung der einschlägigen Rechtsvorschriften sei gerechtfertigt.
Der EGMR habe keinen Zweifel daran, dass Massenüberwachung für die Staaten von entscheidender Bedeutung sei, um Bedrohungen für ihre nationale Sicherheit zu erkennen, und dass unter den heutigen Bedingungen keine Alternative oder Kombination von Alternativen ausreichen würde, um die Befugnis zu Massenüberwachung zu ersetzen.
Angesichts des Risikos, dass ein System der geheimen Beobachtung, das zum Schutz der nationalen Sicherheit und anderer wesentlicher nationaler Interessen eingerichtet worden sei, das ordnungsgemäße Funktionieren demokratischer Prozesse unter dem Deckmantel des Schutzes dieser Prozesse untergraben oder sogar zerstören könne, müsse es jedoch angemessene und wirksame Sicherheiten gegen Missbrauch geben. Jede Bewertung müsse sich auf alle Gegebenheiten des Falles stützen, zum Beispiel Art, Umfang und Dauer möglicher Maßnahmen, Gründe für deren Anordnung, Behörden, die zu deren Genehmigung, Ausführung und Beaufsichtigung befugt sind, sowie Art des Rechtsbehelfs nach nationalem Recht.
Generell betrachtet die Große Kammer Massenüberwachung als einen allmählichen Prozess, bei dem der Grad des Eingriffs in die Rechte des Einzelnen nach Artikel 8 mit dem Fortschreiten des Prozesses zunimmt. Um das Risiko eines Missbrauchs von Massenüberwachung zu minimieren, muss der Prozess nach Ansicht des EGMR „durchgehenden Sicherungsmaßnahmen“ unterliegen. Das bedeutet, dass auf innerstaatlicher Ebene in jeder Phase des Prozesses eine Bewertung der Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit der getroffenen Maßnahmen vorgenommen werden sollte, dass Massenüberwachung von Anfang an einer unabhängigen Genehmigung unterliegen sollte, wenn der Gegenstand und der Umfang der großangelegten Operation festgelegt werden, und dass die Operation einer Aufsicht und unabhängigen nachträglichen Überprüfung unterliegen sollte. Nach Ansicht des Gerichtshofs handelt es sich hierbei um grundlegende Sicherungsmaßnahmen, die den Eckpfeiler jeder mit Artikel 8 konformen Regelung zur Massenüberwachung darstellen. Der EGMR prüft daher, ob der innerstaatliche Rechtsrahmen Folgendes klar definiert:
- die Gründe, aus denen Massenüberwachung genehmigt werden kann;
- die Umstände, unter denen die Kommunikation einer Person abgefangen werden kann;
- die Verfahren, die für die Erteilung einer Genehmigung einzuhalten sind;
- die Verfahren, die bei der Auswahl, Prüfung und Verwendung abgefangenen Materials einzuhalten sind;
- die Vorsichtsmaßnahmen, die bei der Weitergabe des Materials an Dritte zu beachten sind;
- die Grenzen für die Dauer der Überwachung, die Speicherung abgefangenen Materials und die Umstände, unter denen solches Material gelöscht und vernichtet werden muss;
- die Verfahren und Modalitäten für die Beaufsichtigung der Einhaltung der oben genannten Sicherungsmaßnahmen durch eine unabhängige Behörde und deren Befugnisse, gegen Nichteinhaltung vorzugehen;
- die Verfahren für eine unabhängige nachträgliche Überprüfung dieser Einhaltung und der Befugnisse, die der zuständigen Stelle für das Vorgehen gegen Nichteinhaltung eingeräumt wurden.
Nach Bewertung jeder der acht Anforderungen kommt die Große Kammer zu dem Schluss, dass der Rechtsrahmen für Massenüberwachung in Schweden angemessene und wirksame Sicherungsmaßnahmen und Garantien enthält, um die Anforderungen der „Vorhersehbarkeit“ und der „Notwendigkeit in einer demokratischen Gesellschaft“ zu erfüllen. Der EGMR stellt fest, dass die schwedische Regelung zur Massenüberwachung auf detaillierten gesetzlichen Regelungen beruht, in ihrem Anwendungsbereich klar abgegrenzt ist und einschlägige Sicherungsmaßnahmen vorsieht. Die Gründe, aus denen eine Massenüberwachung in Schweden genehmigt werden kann, sind klar umrissen, die Umstände, unter denen Kommunikation abgefangen und untersucht werden kann, sind hinreichend klar dargelegt, die Dauer der Maßnahme ist gesetzlich geregelt und wird kontrolliert, und die Verfahren für die Auswahl, Untersuchung und Verwendung des abgefangenen Materials sind mit angemessenen Sicherheitsmaßnahmen gegen Missbrauch verbunden. Dieselben Schutzmaßnahmen gelten gleichermaßen für den Inhalt der abgefangenen Kommunikation und die Kommunikationsdaten. Entscheidend ist, dass das gerichtliche Vorabgenehmigungsverfahren und die von einer unabhängigen Stelle ausgeübte Aufsicht grundsätzlich dazu dienen, die Anwendung der innerstaatlichen Rechtsvorschriften zu gewährleisten und das Risiko unverhältnismäßiger Auswirkungen auf die Rechte aus Artikel 8 zu begrenzen. Die Große Kammer ist davon überzeugt, dass die Hauptmerkmale der schwedischen Regelung zur Massenüberwachung die Anforderungen der EMRK an die Qualität des Rechts erfüllen, und ist der Ansicht, dass die Funktionsweise dieser Regelung innerhalb der Grenzen dessen bleibt, was „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ ist.
Die Große Kammer stellt jedoch fest, dass die schwedische Massenüberwachung auch Mängel aufweise, die durch die bestehenden Sicherungsmaßnahmen nicht ausreichend kompensiert würden, und dass ein erhebliches Potenzial für den Missbrauch der Massenüberwachung in einer Weise bestehe, die die Rechte des Einzelnen auf Achtung des Privatlebens beeinträchtige. Insbesondere fehle eine Vorgabe im Gesetz über signalerfassende Aufklärung oder anderen einschlägigen Gesetzen, dass bei der Entscheidung über die Übermittlung von nachrichtendienstlichem Material an ausländische Partner die Datenschutzinteressen des Einzelnen zu berücksichtigen seien. Dieser Mangel könne dazu führen, dass Informationen, die das Recht auf Privatsphäre oder das Recht auf Achtung der Korrespondenz ernsthaft gefährden, automatisch ins Ausland übermittelt würden, selbst wenn ihr nachrichtendienstlicher Wert sehr gering sei. Der EGMR verweist darüber hinaus auf das Fehlen einer Möglichkeit für alle Mitglieder der Gesellschaft, begründete Entscheidungen in irgendeiner Form als Antwort auf Anfragen oder Beschwerden bezüglich der Massenüberwachung von Kommunikation zu erhalten, und dass dies den Mechanismus nachträglicher Kontrolle in einem Ausmaß schwäche, das Risiken für die Einhaltung der Grundrechte der betroffenen Personen erzeuge. Dieses Fehlen einer wirksamen Überprüfung in der letzten Phase des Abfangens lasse sich nicht mit der Auffassung des Gerichtshofs vereinbaren, dass das Ausmaß des Eingriffs in die Rechte des Einzelnen nach Artikel 8 mit dem Fortschreiten des Prozesses zunehme, und entspreche nicht dem Erfordernis von End-to-End-Sicherungsmaßnahmen, um angemessene und wirksame Sicherheiten gegen Willkür und die Gefahr von Missbrauch zu bieten. Aus diesem Grund stellt die Große Kammer mit fünfzehn zu zwei Stimmen fest, dass eine Verletzung von Artikel 8 EMRK vorliegt. Sie stellt fest, dass sich aus der Anwendung von Artikel 13 EMRK keine gesonderte Fragestellung ergibt. Vier Richter schließen sich der Auffassung der Mehrheit an, da sie der Meinung sind, dass das Urteil in Bezug auf die Bedeutung des Schutzes des Privatlebens und der Korrespondenz wesentlich weiter gehen sollte, insbesondere durch die Einführung strengerer Mindestsicherungsmaßnahmen, aber auch durch eine striktere Anwendung dieser Sicherungsmaßnahmen auf die beanstandete Regelung zur Massenüberwachung.
Referenzen
- Judgment by the European Court of Human Rights, Grand Chamber, case of Centrum för Rättvisa v. Sweden, Application no. 35252/08, 25 May 2021
- https://hudoc.echr.coe.int/eng?i=001-210078
- Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, Große Kammer, Rechtssache Centrum för Rättvisa gegen Schweden, Beschwerde Nr. 35252/08, 25. Mai 2021
Verknüpfte Artikel
IRIS 2018-8:1/3 Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte: Centrum för Rättvisa gegen Schweden
Dieser Artikel wurde in IRIS Rechtliche Rundschau der Europäischen Audiovisuellen Informationsstelle veröffentlicht.