Ungarn
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (Große Kammer): Magyar Kétfarkú Kutya Párt gegen Ungarn
IRIS 2020-3:1/18
Dirk Voorhoof
Menschenrechtszentrum, Universität Gent und Legal Human Academy
Die Große Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) hat die Schlussfolgerung des Kammerurteils in der Rechtssache Magyar Kétfarkú Kutya Párt gegen Ungarn (23. Januar 2018, siehe IRIS 2018-3/2) bestätigt. Der Fall betrifft die Nutzung und Bewerbung einer mobilen Anwendung (App) durch eine politische Partei, die es den Wählern ermöglichte, Fotos ihrer Wahlzettel anonym zu teilen. Die Große Kammer stellte fest, dass eine Geldbuße für die Verbreitung der App das Recht der politischen Partei auf freie Meinungsäußerung verletzt habe, da der Eingriff in das Recht der Beschwerdeführerin nicht „gesetzlich vorgeschrieben“ sei. Sie betonte, dass Einschränkungen der Meinungsfreiheit politischer Parteien im Zusammenhang mit einer Wahl oder einem Referendum nach dem Anwendungsbereich von Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) eine strenge Überwachung erforderten.
Beschwerdeführerin ist die ungarische politische Partei Magyar Kétfarkú Kutya Párt (MKKP). Ihre politische Haltung wird weitgehend durch Satire vermittelt, die sich gegen die politische Elite und die Regierungspolitik richtet und über ihre Website, Kampagnen, Straßenkunst und Darbietungen verbreitet wird. Im Vorfeld des ungarischen Referendums über den Flüchtlingsverteilungsplan der Europäischen Union im Jahr 2016 stellte MKKP den Wählern eine mobile App zur Verfügung, mit der sie anonym Fotos von ihren Stimmzetteln hochladen und teilen konnten, wobei sie gleichzeitig dazu ermutigt wurden, eine ungültige Stimme abzugeben. Die App ermöglichte es den Wählern auch, die Gründe für ihre Stimmabgabe anzugeben. Die Nationale Wahlkommission (NEC) stellte in einer Entscheidung fest, dass die App gegen die Grundsätze der Fairness von Wahlen, des Wahlgeheimnisses und der ordnungsgemäßen Wahrnehmung von Rechten verstoßen habe. Sie wies die MKKP an, weitere Verstöße gegen Art. 2 Abs. 1 lit. a und e des Wahlverfahrensgesetzes und Art. 2 Abs. 1 des Grundgesetzes zu unterlassen und verhängte außerdem eine Geldbuße von EUR 2.700. Diese Entscheidung wurde von der Kúria (dem Obersten Gerichtshof Ungarns), wenn auch mit einer anderen Begründung, bestätigt und die Geldbuße auf EUR 330 gesenkt. Die MKKP reichte Beschwerde beim EGMR ein, der in seinem Kammerurteil vom 23. Januar 2018 eine Verletzung des Rechts der MKKP auf freie Meinungsäußerung gemäß Artikel 10 EMRK feststellte (siehe IRIS 2018-3/2). Im Wesentlichen stellte die Kammer einstimmig fest, die Regierung habe nicht dargelegt, welchem Interesse oder legitimen Ziel nach Art. 10 Abs. 2 EMRK das Verbot gedient habe.
In ihrem Urteil bestätigte die Große Kammer, dass Artikel 10 nicht nur auf den Inhalt der Informationen, sondern auch auf die Verbreitungswege anwendbar sei, da jede Einschränkung Letzterer notwendigerweise das Recht auf Empfang und Weitergabe von Informationen beeinträchtige. Die Bereitstellung einer mobilen Anwendung und die Aufforderung an die Wähler, Fotos von Wahlzetteln hochzuladen und zu veröffentlichen, sowie die Aufforderung, eine ungültige Stimme abzugeben, betreffe somit die Ausübung des Rechts der MKKP auf freie Meinungsäußerung in Bezug auf beide Aspekte. In Bezug auf die Frage, ob der Eingriff in die Rechte der MKKP die Bedingungen von Art. 10 Abs. 2 erfüllt, stellte die Große Kammer fest, dass keine ausreichende Vorhersehbarkeit gegeben sei und dass der Eingriff der NEC daher nicht „gesetzlich vorgeschrieben“ gewesen sei. Nach Ansicht des EGMR dient die strenge Überwachung dieser Frage nicht nur dem Schutz demokratischer politischer Parteien vor willkürlichen Eingriffen der Behörden, sondern auch dem Schutz der Demokratie selbst. Er betonte, dass jede Einschränkung der Meinungsfreiheit in einem Wahlkontext ohne ausreichend vorhersehbare Regelungen der offenen politischen Debatte, der Legitimität des Wahlprozesses und seiner Ergebnisse und letztlich dem Vertrauen der Bürger in die Integrität der demokratischen Institutionen und ihrer Verpflichtung zu Rechtsstaatlichkeit schaden könnte. Die Große Kammer war der Ansicht, dass es den gesetzlichen Bestimmungen des Wahlverfahrensgesetzes, auf die sich die NEC gestützt hatte, an Klarheit mangele, während die potentielle Gefahr, die mit der Auslegung des Gesetzes für die Wahrnehmung der Stimmrechte, einschließlich der freien Diskussion öffentlicher Angelegenheiten, verbunden sei, besondere Umsicht seitens der inländischen Behörden erfordere. Der EGMR nahm das Argument der NEC zur Kenntnis, dass das Verhalten der MKKP die Fairness der Wahlen und das Wahlgeheimnis gefährde, während die Kúria diese Argumentation ausdrücklich zurückwies. Die Kúria stellte fest, das Wahlgeheimnis sei nicht verletzt worden, da die mobile Anwendung keinen Zugriff auf die persönlichen Daten der Nutzer erlaubt habe und somit nicht in der Lage gewesen sei, einen abgegebenen Stimmzettel einem Wähler zuzuordnen. Darüber hinaus habe das Verhalten der MKKP keinen wesentlichen Einfluss auf die Fairness des nationalen Referendums gehabt und sei nicht in der Lage gewesen, das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Arbeit der Wahlgremien zu erschüttern. Unter Hinweis auf die besondere Bedeutung der Vorhersehbarkeit des Gesetzes, wenn es um die Einschränkung der Meinungsfreiheit einer politischen Partei im Zusammenhang mit einer Wahl oder einem Referendum geht, stellte der EGMR fest, dass „erhebliche Unsicherheit über die möglichen Auswirkungen der [von den inländischen Behörden angewandten] angefochtenen Rechtsvorschriften besteht“. Daher ist die Große Kammer nicht davon überzeugt, dass das im vorliegenden Fall anwendbare ungarische Recht, auf dessen Grundlage die Freiheit der MKKP, Informationen und Ideen weiterzugeben, eingeschränkt wurde, im Sinne von Art. 10 Abs. 2 EMRK hinreichend genau formuliert wurde, um jegliche Willkür auszuschließen und der MKKP die Möglichkeit zu geben, ihr Verhalten entsprechend zu regeln.
Die Große Kammer stellte mit sechzehn gegen eine Stimme einen Verstoß gegen Artikel 10 EMRK fest und verurteilte Ungarn zur Zahlung von Schadensersatz an die MKKP sowie zur Erstattung ihrer Kosten und Auslagen. Der russische Richter Dedov widersprach dem und argumentierte im Wesentlichen, dass die Kampagne der MKKP „respektlos war gegenüber der demokratischen Institution, die für die Entscheidungsfindung der Gesellschaft konzipiert ist“. Er verwies darauf, dass die MKKP versucht habe, die Wähler zu bewegen, ihre Stimmzettel absichtlich ungültig zu machen, um ihre Ablehnung der gesamten Idee des Referendums zum Ausdruck zu bringen und die Wähler dazu zu ermutigen, lustige Bilder auf die Stimmzettel zu zeichnen, während es viele andere geeignete Möglichkeiten für die Mitglieder der MKKP und für die Wähler, die ihre Stimmzettel ungültig gemacht haben, gegeben habe, ihre Meinung zu äußern.
Referenzen
- Große Kammer des EGMR, Magyar Kétfarkú Kutya Párt gegen Ungarn, Beschwerde Nr. 201/17, 20 Januar 2020
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IRIS 2018-3:1/2 Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte: Magyar Kétfarkú Kutya Párt gegen Ungarn
Dieser Artikel wurde in IRIS Rechtliche Rundschau der Europäischen Audiovisuellen Informationsstelle veröffentlicht.