Ungarn
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte: Herbai gegen Ungarn
IRIS 2020-1:1/4
Dirk Voorhoof
Menschenrechtszentrum, Universität Gent und Legal Human Academy
Im Fall Herbai gegen Ungarn hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) entschieden, dass die Entlassung eines Arbeitnehmers wegen der Veröffentlichung von Artikeln auf einer Website, welche dem Ansehen seines Arbeitgebers schaden könnten, eine Verletzung des Rechts des Arbeitnehmers auf freie Meinungsäußerung gemäß Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) darstellte. Der EGMR stellte fest, dass es an einer angemessenen Abwägung zwischen dem Recht des Arbeitnehmers auf freie Meinungsäußerung und dem Recht des Arbeitgebers auf den Schutz seiner legitimen Geschäftsinteressen mangelte, insbesondere weil keine Schädigung der Geschäftsinteressen des Arbeitgebers nachweisbar war.
Der Beschwerdeführer, Csaba Herbai, arbeitete seit 2006 als Fachkraft für HR-Management bei der Bank O. Zu seinen Aufgaben zählten Analyse und Gehaltsabrechnung sowie Personalmanagement. Laut dem Ethikkodex der Bank war es den Mitarbeitern nicht erlaubt, offiziell oder inoffiziell irgendeine Information im Zusammenhang mit der Arbeitsweise und den Tätigkeiten der Bank zu veröffentlichen. Im Jahr 2011 hatte Herbai, gemeinsam mit Frau A. N., eine Website zum Wissensaustausch für Publikationen und Veranstaltungen zum Thema Personalmanagement gestartet. Kurz nach der Veröffentlichung zweier Artikel auf der Website, eines von Frau A. N. und eines von Herbai selbst, kündigte die Bank Herbais Beschäftigungsverhältnis wegen Verletzung der Vertraulichkeitsstandards seines Arbeitgebers. Die Bank machte geltend, dass Herbais Verhalten durch die Bereitstellung von Bildungsangeboten im Bereich des Personalmanagements ihre wirtschaftlichen Interessen verletzt habe. Überdies sei er durch die Art seiner Position im Besitz von Informationen gewesen, deren Veröffentlichung die Geschäftsinteressen der Bank beeinträchtigten. Herbai leitete ein Verfahren vor dem Budapester Arbeitsgericht ein, in dem er die Kündigung seines Arbeitsvertrags anfocht, doch das Arbeitsgericht wies seine Klage ab und stellte fest, dass die Website und der Inhalt der Artikel eine Verletzung des Vertrauensverhältnisses darstellten und die Geschäftsinteressen der Bank O. gefährdet hatten. Das Budapester Fővárosi Törvényszék (Hauptstädtischer Gerichtshof) kam jedoch zum gegenteiligen Schluss: Herbais Verhalten hatte die Geschäftsinteressen seines Arbeitgebers nicht geschädigt und seine Entlassung wegen Vertrauensbruchs war deshalb nicht rechtmäßig. Doch der Kúria (Oberster Gerichtshof) gab anschließend einem Überprüfungsantrag der Bank statt und bestätigte die Feststellungen des erstinstanzlichen Gerichts, indem er darauf verwies, dass Herbais Verhalten die Geschäftsinteressen seines Arbeitgebers gefährdet und er gegen den Ethikkodex seines Arbeitgebers verstoßen hatte. Diese Feststellung wurde vom Verfassungsgericht bestätigt, das befand, dass Herbais Verhalten, das die Verwaltung der Website und des Inhalts der betreffenden Artikel umfasste, nicht durch das in Artikel IX (1) des ungarischen Grundgesetzes verankerte Recht auf freie Meinungsäußerung geschützt war.
Herbai legte eine Beschwerde beim EGMR ein, in der er beklagte, dass die Kündigung seines Arbeitsverhältnisses wegen auf einer Website veröffentlichter Artikel eine Verletzung seines durch Artikel 10 EMRK geschützten Rechts auf freie Meinungsäußerung darstelle. Allgemein bekräftigt der EGMR, dass Artikel 10 EMRK auch anwendbar ist, wenn die Beziehungen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer wie im vorliegenden Fall durch Privatrecht geregelt sind, und dass der Staat auch im Bereich der Beziehungen zwischen Einzelpersonen eine positive Verpflichtung zum Schutz des Rechtes auf freie Meinungsäußerung hat (siehe auch Fuentes Bobo gegen Spanien, IRIS 2000/4-1, Wojtas-Kaleta gegen Polen, IRIS 2009/9-1 und Nenkova-Lalova gegen Bulgarien, IRIS 2013/4-1). Der EGMR stellt fest, dass Arbeitsbeziehungen auf gegenseitigem Vertrauen beruhen müssen, um erfolgreich zu sein. Selbst wenn die Anforderung, nach Treu und Glauben zu handeln, im Zusammenhang mit einem Arbeitsvertrag keine absolute Loyalitätspflicht gegenüber dem Arbeitgeber noch eine Verschwiegenheitspflicht bis zur Unterwerfung des Arbeitnehmers unter die Interessen des Arbeitgebers bedeute, seien bestimmte Erscheinungsformen des Rechts auf freie Meinungsäußerung, die in anderen Kontexten möglicherweise legitim sind, in jenem der Arbeitsbeziehungen nicht legitim. Nach Auffassung des EGMR sind die folgenden Elemente für die Untersuchung des zulässigen Geltungsbereichs einer Beschränkung des Rechts auf freie Meinungsäußerung im Arbeitsbereich relevant: die Beschaffenheit der betreffenden Äußerung, die Motive des Urhebers, der dem Arbeitgeber durch die Äußerung entstandene allfällige Schaden sowie die Schwere der auferlegten Sanktion. Er verweist darauf, dass sich die betreffenden Artikel mit Personalpolitik befassten, indem sie Informationen und Meinungen zu den jüngsten Entwicklungen in dem Bereich lieferten und zur Diskussion über Geschäftspraktiken und Steuerfragen aufriefen. Der EGMR widerspricht ausdrücklich der Feststellung des ungarischen Verfassungsgerichts, dass die Stellungnahmen eines Arbeitnehmers nicht in den Schutzbereich des Rechts auf freie Meinungsäußerung fallen, weil sie beruflicher Art sind und keine „Verbindung zum öffentlichen Raum“ haben, durch die sie eindeutig als Teil einer Debatte über Angelegenheiten von öffentlichem Interesse bezeichnet werden könnten. Darüber hinaus ist der EGMR der Ansicht, dass Herbai bei seinen Handlungen keine rein privaten Interessen verfolgte und durch seine Website auch keine persönlichen Beschwerden verbreitete, da seine Absicht darin bestand, Wissen mit und innerhalb der Zielgruppe zu teilen. Obgleich die von Herbai übermittelten Informationen in engem Zusammenhang mit seinen Arbeitsaufgaben standen, und auch wenn der EGMR anerkennt, dass dem Arbeitgeber nach dem ungarischen Gesetz ein gewisser Ermessensspielraum im Hinblick auf die Entscheidung zugestanden werden muss, welches Verhalten zur Beeinträchtigung der Arbeitsbeziehungen führen könnte, selbst wenn diese Beeinträchtigung nicht offensichtlich ist, stellt er fest, dass weder Herbais Arbeitgeber noch die ungarischen Gerichte irgendeinen Versuch unternommen haben, um nachzuweisen, inwiefern die betreffenden Äußerungen negative Auswirkungen auf die Geschäftsinteressen der Bank O. gehabt haben könnten. Schließlich verweist der EGMR darauf, dass eine eher schwere Sanktion gegen Herbai verhängt wurde, nämlich die Kündigung seines Arbeitsverhältnisses ohne jegliche Prüfung der Verfügbarkeit einer milderen Maßnahme.
Der EGMR kommt zu dem Schluss, dass die Ausübung des Rechtes auf freie Meinungsäußerung auch in den Beziehungen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer sichergestellt werden sollte. Er stellt fest, dass es im vorliegenden Fall, der die Einrichtung einer fachspezifischen Website und die Veröffentlichung von Artikeln auf dieser Website betrifft, an einer sinnvollen Abwägung der entsprechenden Interessen durch die inländischen Gerichte mangelt. Das reale Ergebnis der Arbeitsstreitigkeit sei allein durch Erwägungen bestimmt worden, die sich auf den Vertrag zwischen dem Beschwerdeführer und der Bank O. bezogen, weshalb die Berufung des Beschwerdeführers auf das Recht auf freie Meinungsäußerung keine Wirkung zeigte. Nach Auffassung des EGMR haben die ungarischen Behörden ihre positiven Verpflichtungen gemäß Artikel 10 EGMR nicht erfüllt, da sie keinen überzeugenden Nachweis erbracht haben, dass die Zurückweisung von Herbais Anfechtungsklage gegen seine Entlassung auf einer angemessenen Abwägung zwischen seinem Recht auf freie Meinungsäußerung auf der einen Seite und dem Recht seines Arbeitgebers auf den Schutz seiner legitimen Geschäftsinteressen auf der anderen Seite beruhte. Folglich stellt der EGMR einstimmig fest, dass ein Verstoß gegen Artikel 10 EMRK besteht.
Referenzen
- ECtHR Fourth Section, Herbai v. Hungary, Application no. 11608/15, 5 November 2019
- https://hudoc.echr.coe.int/eng?i=001-197216
- EGMR, Vierte Sektion, Herbai gegen Ungarn, Beschwerde Nr. 11608/15, 5. November 2019
Dieser Artikel wurde in IRIS Rechtliche Rundschau der Europäischen Audiovisuellen Informationsstelle veröffentlicht.