Norwegen

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte: Høiness gegen Norwegen

IRIS 2019-5:1/2

Dirk Voorhoof

Menschenrechtszentrum, Universität Gent und Legal Human Academy

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat ein neues Urteil zur Haftung eines Internetportals für anstößige und vermeintlich ehrenrührige Inhalte gefällt (siehe auch Delfi gegen Estland (Große Kammer), IRIS 2015-7/1; Magyar Tartalomszolgáltatók Egyesülete und Index.hu Zrt gegen Ungarn, IRIS 2016-3/2 und Pihl gegen Schweden, IRIS 2017-5/3).   Der EGMR pflichtete den Feststellungen der norwegischen Gerichte bei, dass einige anonyme Kommentare zwar unangemessen und geschmacklos gewesen seien, die prompte Entfernung der anstößigen Kommentare nach tatsächlicher Kenntnis durch das Medienunternehmen und den Redakteur das Internetportal aber der Haftung enthebe. Die Zurückweisung der Klage der Beschwerdeführerin durch die norwegischen Gerichte gegen das Internetportal wegen mutmaßlicher Verletzung ihres Rechts auf Privatsphäre und Schutz des Ansehens stelle daher keinen Verstoß gegen Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) dar.

Die Beschwerdeführerin in dieser Rechtssache, Mona Høiness, ist eine bekannte Anwältin in Norwegen, war früher Talkshow-Moderatorin und beteiligte sich aktiv an öffentlichen Debatten. Das Internetportal Hegnar Online veröffentlichte Artikel zu ihrer Rolle und Beziehung zu einer wohlhabenden älteren Witwe, von der sie geerbt hat. Über den Erbfall wurde von einigen Medien extensiv berichtet. Die Website Hegnar Online beinhaltete ein Forum - unter einer eigenen Webadresse, zu der aber über die Online-Zeitung Zugang möglich war -, in dem Leser Diskussionen starten und Kommentare hinterlassen konnten. In dem Forum gab es keine redaktionellen Inhalte; alle Inhalte waren nutzergeneriert, und Nutzer konnten anonym Kommentare schreiben, ohne sich registrieren zu müssen. Nachdem einige wenige Leser vulgäre und unehrenhafte Kommentare über Høiness gepostet hatten, strengte sie ein Zivilverfahren gegen das Unternehmen Hegnar Media AS und den Redakteur H., der für Hegnar Online arbeitete, an. Høiness klagte, ihre Ehre sei beschädigt worden, insbesondere aufgrund von sexueller Belästigung in drei Kommentaren im Forum von Hegnar Online. Die Beklagten machten geltend, sie hätten keine Kenntnis von den Kommentaren gehabt und die anstößigen Kommentare seien entfernt worden, sobald sie davon Kenntnis erhalten hätten. Das oberste norwegische Gericht räumte ein, dass jeder der drei Kommentare ‚unangemessen, unsachlich und geschmacklos‘ gewesen sei, dies für sich genommen aber nicht ausreiche. Høiness Klage auf Entschädigung könne nur erfolgreich sein, wenn ‚hinreichende Schuldhaftigkeit‘ auf Seiten von Hegnar Online und H. bewiesen werden könne, dass sie nicht genug getan hätten, um die streitigen Kommentare zu entdecken und danach zu entfernen. Da zwei Kommentare rasch nach der Anzeige von Høiness entfernt worden seien und ein Kommentar auf eigene Initiative der Mitarbeiter des Portals gelöscht worden sei, gebe es keinen Anlass, Hegnar Online in diesem Fall als haftbar zu betrachten. Darüber hinaus sprachen die norwegischen Gerichte den Beklagten Ersatz ihrer Verfahrenskosten zu, die von Høiness in einer Gesamthöhe von rund EUR 45.000 zu übernehmen waren.

Vor dem EGMR klagte Høiness, die norwegischen Gerichte hätten ihr Recht auf Achtung des Privatlebens nicht hinreichend geschützt und ihr die Übernahme der Verfahrenskosten der Beklagten auferlegt und damit gegen Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) gehandelt. Der EGMR stellte fest, der Streitgegenstand in der vorliegenden Rechtssache sei keine Handlung des Staates, sondern der mutmaßlich ungenügende Schutz, den die inländischen Gerichte dem Privatleben von Høiness gewährt hätten. Der Kern von Artikel 8 EMRK liege darin, Einzelpersonen gegen willkürliche Eingriffe staatlicher Behörden zu schützen. Dabei zwinge er den Staat jedoch nicht einfach, solche Eingriffe zu unterlassen: Neben dieser Negativverpflichtung können auch positive Verpflichtungen für eine wirksame Achtung des Privat- oder Familienlebens vorgegeben sein. Zu diesen Verpflichtungen könne es gehören, Maßnahmen zu ergreifen, die Achtung des Privatlebens auch im Bereich der Beziehungen zwischen Einzelpersonen untereinander zu gewährleisten. Der EGMR bekräftigte, damit Artikel 8 EMRK zum Tragen kommen könne, müsse der Angriff auf die Ehre und das Ansehen einer Person eine bestimmte Schwere aufweisen und in einer Art und Weise erfolgt sein, die die persönliche Wahrnehmung des Rechts auf Achtung der Privatsphäre beeinträchtige, wobei die Rechte nach Artikel 8 und 10 EMRK gleiche Beachtung verdienten.  Die Frage war somit, ob der Staat eine gerechte Abwägung zwischen Høiness‘ Recht auf Achtung ihres Privatlebens nach Artikel 8 EMRK und dem Recht der Online-Nachrichtenagentur und des Forumbetreibers auf freie Meinungsäußerung nach Artikel 10 EMRK vorgenommen hat. In dieser Hinsicht betonte der EGMR in erster Linie, die streitigen Äußerungen hätten keine Hetze oder Anstiftung zu Gewalt dargestellt. Bei der Abwägung zwischen den widerstreitenden Rechten verwies der EGMR auf die spezifischen Aspekte der Meinungsfreiheit als relevant für die konkrete Bewertung des fraglichen Eingriffs: den Kontext der Kommentare, die vom Unternehmen ergriffenen Maßnahmen, um verleumderische Kommentare zu verhindern oder zu entfernen, die Haftbarkeit der tatsächlichen Urheber der Kommentare als Alternative zur Haftung des Vermittlers sowie die Folgen der inländischen Verfahren für das Unternehmen.

Der EGMR stimmte zu, dass Høiness erhebliche Schwierigkeiten bei dem Versuch gehabt hatte, Ansprüche gegen die Personen hinter den anonymen Kommentaren durchzusetzen. Er berücksichtigte auch den Umstand, dass Hegnar Online ein großes, kommerziell betriebenes Nachrichtenportal ist und die Diskussionsforen beliebt waren. Es ließ sich jedoch nicht nachweisen, dass das Diskussionsforum speziell in die Präsentation von Nachrichten integriert war; somit konnte es nicht als eine Fortsetzung der redaktionellen Artikel betrachtet werden. Insbesondere verwies der EGMR auf die von Hegnar Online ergriffenen Maßnahmen: Es gab ein etabliertes System an Moderatoren, die Inhalte überwachten, und Leser konnten auf ‚Warnbuttons‘ klicken, um ihre Reaktion auf Kommentare zu melden. Im vorliegenden Fall hätten das Newsportal und sein Redakteur angemessen gehandelt, indem sie die anstößigen Kommentare nach Meldung rasch entfernt hätten. Der EGMR sah keinen Grund für eine von den inländischen Gerichten abweichende Haltung und befand, die norwegischen Gerichte hätten im Rahmen ihres Ermessensspielraums gehandelt, als sie eine Abwägung zwischen den Rechten von Høiness nach Artikel 8 EMRK und dem entgegenstehenden Recht des Nachrichtenportals und Betreibers des Diskussionsforums auf freie Meinungsäußerung nach Artikel 10 EMRK zu erreichen suchten.

Der EGMR stellte schließlich fest, Høiness sei ein erheblicher Anteil der Verfahrenskosten auferlegt worden. Er stimmte jedoch den norwegischen Gerichten zu, es habe keinen Grund gegeben, von der ursprünglichen Vereinbarung abzuweichen, dass der obsiegenden Partei die Erstattung ihrer Gebühren und Auslagen zugesprochen wird. Unter Berücksichtigung des Wesens der vor den nationalen Gerichten angestrengten Klage, des Gegenstands des Rechtsstreits und des ‚Wohlstands und der relativen Stärke‘ der Beschwerdeführerin war der EGMR nicht der Ansicht, er müsse die Einschätzung der inländischen Gerichte in Bezug auf die Auferlegung der Kosten in Frage stellen. Der EGMR befand daher einstimmig, dass kein Verstoß gegen Artikel 8 EMRK vorliege.


Referenzen

  • Judgment by the European Court of Human Rights, Second Section, case of Høiness v. Norway, Application no. 43624/14, 17 March 2019
  • https://hudoc.echr.coe.int/eng?i=001-191740
  • Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (Zweite Sektion), Rechtssache Høiness  gegen Norwegen, Beschwerde Nr. 43624/14, 17. März 2019.

Verknüpfte Artikel

IRIS 2015-7:1/1 Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte: Delfi AS gegen Estland (Große Kammer)

Dieser Artikel wurde in IRIS Rechtliche Rundschau der Europäischen Audiovisuellen Informationsstelle veröffentlicht.