Deutschland
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte: Tierbefreier e.V. gegen Bundesrepublik Deutschland
IRIS 2014-3:1/2
Dirk Voorhoof
Menschenrechtszentrum, Universität Gent und Legal Human Academy
Tierbefreier e.V. ist ein in Deutschland ansässiger Verein, der sich für Tierrechte einsetzt. Ein Gerichtsurteil untersagte dem Verein die Verbreitung von Filmmaterial, das ein Journalist heimlich auf dem Gelände eines Unternehmens aufgenommen hatte, welches Tierversuche für die Pharmaindustrie durchführt (Unternehmen C.). Der Journalist nutzte seine Aufnahmen, um Dokumentarfilme unterschiedlicher Länge zu produzieren, in denen die Art und Weise der Behandlung von Versuchstieren kritisch kommentiert wird. Seine Filme bzw. Auszüge daraus wurden von verschiedenen Fernsehsendern gezeigt. Der Verein Tierbefreier produzierte einen circa 20-minütigen Film mit dem Titel „Vergiften für Profit“, der größtenteils auf den Aufnahmen des Journalisten basierte, und stellte ihn auf seine Website. Der Film erhob die Anschuldigung, dass die gesetzlichen Vorschriften zur Behandlung von Tieren von dem Unternehmen C. missachtet wurden und endete mit der Feststellung, dass Arzneimittel durch das Vergiften von Affen nicht sicherer würden. Auf Antrag des Unternehmens C. unter Berufung auf seine Persönlichkeitsrechte, die das Recht umfassen, nicht unter Verwendung versteckter Kameras ausspioniert zu werden, wurde der Verein Tierbefreier durch eine gerichtliche Verfügung aufgefordert, die öffentliche Verbreitung der durch den Journalisten auf dem Gelände von C. realisierten Filmaufnahmen zu unterlassen und Dritten den Film auch nicht anderweitig zugänglich zu machen. Den deutschen Gerichten zufolge konnte sich Tierbefreier e.V. nicht auf das Recht auf freie Meinungsäußerung berufen, da die Art und Weise, auf die der Verein das Filmmaterial präsentiert hatte, die Regeln der intellektuellen Auseinandersetzung um Ideen nicht respektierte. Unter Berufung auf Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention legte Tierbefreier e.V. beim Straßburger Gericht mit der Begründung Beschwerde ein, dass die gerichtliche Verfügung eine Verletzung des Rechts auf freie Meinungsäußerung darstelle. Der Verein berief sich zudem auf Artikel 14 (Verbot der Diskriminierung) in Verbindung mit Artikel 10 und klagte, er sei im Vergleich zu dem Journalisten und anderen Tierschützern diskriminiert worden, denen lediglich die Verbreitung bestimmter Filme untersagt worden war, die die Filmaufnahmen aber weiterhin in anderen Zusammenhängen veröffentlichen durften.
Der EGMR bestätigt die Feststellung, dass die Verfügung das Recht von Tierbefreier e.V. auf freie Meinungsäußerung beeinträchtigt hat. Da sie jedoch gesetzlich vorgesehen war, das berechtigte Ziel verfolgte, den Ruf des Unternehmens C. zu schützen und „in einer demokratischen Gesellschaft als notwendig erachtet wurde“, stellte der Gerichtshof fest, dass keine Verletzung von Artikel 10 der Konvention vorlag. Der EGMR wies darauf hin, dass die nationalen Gerichte sorgfältig geprüft hatten, ob eine Entscheidung, der betreffenden Verfügung stattzugeben, gegen das Recht auf freie Meinungsäußerung des Antragsstellers Tierbefreier e.V. verstoßen würde, unter voller Anerkennung der Bedeutung des Rechts auf freie Meinungsäußerung in einer Debatte zu Fragen von öffentlichem Interesse. Der Gerichtshof hebt hervor, dass kein Nachweis dafür vorlag, dass die in dem Film „Vergiften für Profit“ getätigten Anschuldigungen, denen zufolge das Unternehmen C. das Gesetz systematisch missachtete, richtig seien. Des Weiteren habe Tierbefreier e.V. beim Vorgehen gegen die Unternehmenstätigkeiten von C. unlautere Mittel eingesetzt und es könne davon ausgegangen werden, dass sich dies fortsetze, sollte der Verein das Filmmaterial weiterhin nutzen dürfen. Der EGMR verwies ferner auf die Feststellungen der deutschen Gerichte, dass die weitere Verbreitung der Filmaufnahmen einen ernsten Verstoß gegen die Rechte des Unternehmens C. darstellen würde, insbesondere da die Aufnahmen von einem ehemaligen Angestellten des Unternehmens C. gemacht worden waren, der seine berufliche Position missbraucht hatte, um heimlich Filmmaterial auf dem Privatgrundstück des Unternehmens zu produzieren. Der Gerichtshof weist schließlich darauf hin, dass es sich bei der vorliegenden Beeinträchtigung nicht um strafrechtliche Sanktionen handle, sondern um eine zivilrechtliche Verfügung, die den Verein Tierbefreier e.V. daran hindere, näher definierte Filmaufnahmen zu verbreiten. Er verwies auf die Tatsache, dass Tierbefreier e.V. weiterhin in vollem Umfang berechtigt bleibe, seine Kritik zu Tierversuchen auf andere, auch einseitige Art und Weise zu äußern. Der Gerichtshof vertritt die Auffassung, dass die deutschen Gerichte eine angemessene Abwägung zwischen dem Recht von Tierbefreier e.V. auf freie Meinungsäußerung und den Interessen des Unternehmens C. am Schutz seines Rufes vorgenommen haben. Demzufolge lag keine Verletzung von Artikel 10 der Konvention für sich genommen vor. Da die deutschen Gerichte die unterschiedliche Behandlung von Tierbefreier e.V. gegenüber den anderen Tierschützern und dem Journalisten in Bezug auf das Ausmaß der zivilrechtlichen Verfügung treffend begründet hatten, vertritt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte daher ferner die Auffassung, dass kein Verstoß gegen Artikel 14 in Verbindung mit Artikel 10 der Konvention vorliegt.
Referenzen
- Judgment by the European Court of Human Rights (Fifth Section), case of Tierbefreier E.V. v. Germany, Appl. No. 45192/09 of 16 January 2014
- https://hudoc.echr.coe.int/eng?i=001-140016
- Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (Fünfte Sektion), Rechtssache Tierbefreier e.V. gegen Bundesrepublik Deutschland, Beschwerde Nr. 45192/09 vom 16. Januar 2014
Dieser Artikel wurde in IRIS Rechtliche Rundschau der Europäischen Audiovisuellen Informationsstelle veröffentlicht.