Armenien
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte: Aghajanjan gegen Armenien
IRIS 2024-10:1/23
Dirk Voorhoof
Menschenrechtszentrum, Universität Gent und Legal Human Academy
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat seine Rechtsprechung zum Recht auf freie Meinungsäußerung am Arbeitsplatz und der horizontalen Wirkung des Rechts auf freie Meinungsäußerung in privaten Beziehungen (siehe auch Halet gegen Luxemburg, IRIS 2023-4/23; Herbai gegen Ungarn, IRIS 2020-1/4; und Fuentes Bobo gegen Spanien, IRIS 2000-4/1) um ein neues, interessantes Urteil erweitert. Der Fall betrifft die im Jahr 2010 erfolgte Entlassung eines leitenden Angestellten einer Chemiefabrik, weil er in einem Medieninterview sensible Informationen über die Fabrik offengelegt hatte. In dem Interview hatte der Angestellte eine Reihe sensibler und wichtiger Themen von öffentlichem Interesse zur Sprache gebracht, wie den Umweltschutz, die Schädigung der menschlichen Gesundheit und die Sicherheit am Arbeitsplatz. Allerdings wurde das Verhältnis zwischen der Loyalitätspflicht des Angestellten und dem öffentlichen Interesse, über Umweltprobleme und wahrgenommenes Fehlverhalten in Armeniens riesiger Chemiefabrik informiert zu werden, von den innerstaatlichen Gerichten überhaupt nicht untersucht. Die nationalen Gerichte, welche die Entlassung des Angestellten bestätigten, hatten kein angemessenes Gleichgewicht zwischen den betreffenden widerstreitenden Interessen hergestellt. Der EGMR stellte einen Verstoß gegen das in Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) garantierte Recht auf freie Meinungsäußerung des Angestellten fest.
In dem Fall geht es um die fristlose Entlassung von Ischchan Aghajanjan aus seinem Arbeitsverhältnis, weil er in einem Zeitungsinterview sensible Informationen über seinen Arbeitgeber preisgegeben hatte. Insbesondere stellte der Direktor der Fabrik fest, der die Entlassung bekannt gab, dass Aghajanjan falsche Informationen über wissenschaftliche Arbeiten und Experimente verbreitet hatte sowie über die Gehälter der Angestellten in der Fabrik und dabei gegen das Arbeitsrecht und bestimmte Klauseln seines Arbeitsvertrags über Vertrauen, Loyalität und Vertraulichkeit verstoßen hatte. Aghajanjan klagte vor den Zivilgerichten gegen seine Entlassung und machte geltend, dass er keine Geschäftsgeheimnisse verraten habe, und berief sich außerdem auf sein Recht auf freie Meinungsäußerung. Die armenischen Gerichte wiesen seine Beschwerde mit der Begründung ab, dass die Informationen, die er in dem Interview offengelegt hatte, wie etwa Einzelheiten über die Produktionskapazitäten der Fabrik, die Art ihrer wissenschaftlichen Arbeit, laufende Experimente, die Rohstofflagerung, Produktarten und technische Verfahren, die entwickelt und angewandt werden, sowie das Gehalt der Angestellten als Geschäftsgeheimnisse betrachtet werden. Aghajanjan reichte eine Beschwerde beim EGMR ein, in der er beanstandete, dass seine Entlassung infolge seines in dem Zeitungsartikel veröffentlichten Interviews gegen sein Recht auf freie Meinungsäußerung gemäß Artikel 10 der EMRK verstoßen hatte.
Der EGMR stellte einstimmig fest, dass die armenischen Gerichte in der Tat gegen Aghajanjans Recht auf freie Meinungsäußerung verstoßen hatten. Er verwies zunächst auf seine frühere Rechtsprechung zur Anwendung von Artikel 10 im Zusammenhang mit beruflichen Beziehungen, ungeachtet dessen, ob diese Beziehungen dem öffentlichen Recht oder dem Privatrecht unterliegen. Tatsächlich beruhe die echte und wirksame Ausübung des Rechts auf freie Meinungsäußerung nicht nur auf der Nichteinmischungspflicht des Staats, sondern könne auch positive Schutzmaßnahmen erfordern, selbst im Bereich der Beziehungen zwischen Einzelpersonen. In bestimmten Fällen habe der Staat eine positive Pflicht, das Recht auf freie Meinungsäußerung zu schützen, sogar gegen Eingriffe von Privatpersonen.
Die armenische Regierung argumentierte, dass Aghajanjans Entlassung den Anforderungen von Artikel 10 der EMRK entsprochen habe, und insbesondere, dass Aghajanjan in Übereinstimmung mit dem Gesetz entlassen worden sei, nämlich wegen des Vertrauensverlustes seines Arbeitgebers ihm gegenüber und seiner groben Verletzung der Arbeitsdisziplin – im vorliegenden Fall der Offenlegung eines Geschäftsgeheimnisses. Der EGMR erachtete es als angemessen, den vorliegenden Fall im Hinblick auf die positiven Verpflichtungen des Staates gemäß Artikel 10 der EMRK zu prüfen, und beurteilte daher, ob die armenischen Justizbehörden bei der Abweisung von Aghajanjans Klage sein Recht auf freie Meinungsäußerung im Rahmen der Arbeitsbeziehungen angemessen geschützt hatten. Er bekräftigte auch die Bedeutung der Loyalitäts- und Verschwiegenheitspflicht von Angestellten gegenüber ihrem Arbeitgeber, welche verlangt, dass selbst die Verbreitung wahrheitsgetreuer Informationen mit Maß und Anstand zu erfolgen hat. Allerdings könne diese Pflicht durch das mögliche Interesse der Öffentlichkeit an bestimmten Informationen aufgehoben werden. Der EGMR wies auch darauf hin, dass die innerstaatlichen Gerichte bei der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit einer schwerwiegenden Maßnahme wie der fristlosen Entlassung Schlüsselelemente des Falls wie die Art und Richtigkeit der betreffenden Äußerungen, die Motive des Angestellten für das Interview und die Möglichkeit, seinen Standpunkt vor seinen Vorgesetzten wirksam zu vertreten, sowie den der Fabrik infolge des Interviews des Angestellten entstandenen Schaden berücksichtigen und umfassend analysieren müssten.
Der EGMR stellte fest, dass die innerstaatlichen Urteile zu diesen Fragen nur sehr wenige Argumente enthielten. Erstens seien die innerstaatlichen Gerichte, obgleich Aghajanjan ausführliche Argumente vorbrachte, mit denen er die Rechtmäßigkeit seiner Entlassung infolge seines Interviews bestritt, auf keines seiner diesbezüglichen Argumente eingegangen. Noch wichtiger sei, dass die innerstaatlichen Gerichte den ihnen vorliegenden Fall nicht im Lichte der in der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu Artikel 10 der EMRK festgelegten Grundsätze beurteilt hätten. In den Urteilen der innerstaatlichen Gerichte sei nicht detailliert ausgeführt worden, welche der in der Zeitung veröffentlichten Äußerungen des Angestellten als unzutreffend oder diffamierend befunden wurden, und Aghajanjans Argumente bezüglich seiner früheren wiederholten Versuche, seine Bedenken hinsichtlich der im Interview offengelegten Probleme bei seinen Vorgesetzten anzusprechen, seien überhaupt nicht untersucht worden. Die armenischen Gerichte hätten zudem sein Motiv nicht überprüft, obwohl in den innerstaatlichen Urteilen nicht erwähnt wurde, dass Aghajanjan in böser Absicht gehandelt habe. Darüber hinaus hätte Aghajanjan in seinem Interview sensible und wichtige Themen von öffentlichem Interesse zur Sprache gebracht, die den Umweltschutz, die Schädigung der menschlichen Gesundheit und die Sicherheit am Arbeitsplatz betreffen. Tatsächlich sei das Verhältnis zwischen Aghajanjans Loyalitätspflicht und dem öffentlichen Interesse, über Umweltprobleme und wahrgenommenes Fehlverhalten in Armeniens riesiger Chemiefabrik informiert zu werden, von den innerstaatlichen Gerichten überhaupt nicht untersucht worden. Des Weiteren sei in den innerstaatlichen Urteilen, in denen die Entlassung bestätigt wurde, nicht erwähnt worden, dass die Fabrik infolge von Aghajanjans Interview einen Schaden erlitten hätte. Schließlich stellte der EGMR in Bezug auf die Schwere der Maßnahme, die gegen Aghajanjan verhängt wurde, fest, dass es die schwerstmögliche war, ohne dass die Angemessenheit einer weniger schweren Maßnahme geprüft worden sei. Unter Berücksichtigung der vorstehenden Ausführungen war der EGMR der Auffassung, dass die nationalen Gerichte es versäumt hätten, im Lichte der in seiner Rechtsprechung aufgestellten Kriterien ein angemessenes Gleichgewicht zwischen den betreffenden widerstreitenden Interessen herzustellen und „stichhaltige und ausreichende“ Gründe für ihre Entscheidungen anzuführen. Folglich liegt ein Verstoß gegen Artikel 10 der EMRK vor.
Referenzen
- Judgment by the European Court of Human Rights, Fourth Section, in the case of Aghajanyan v. Armenia, Application No. 41675/12, 8 October 2024
- https://hudoc.echr.coe.int/eng?i=001-236131
- Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, Vierte Sektion, im Fall Aghajanjan gegen Armenien, Beschwerde Nr. 41675/12, 8. Oktober 2024
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Dieser Artikel wurde in IRIS Rechtliche Rundschau der Europäischen Audiovisuellen Informationsstelle veröffentlicht.