Ungarn

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte: Boronyák gegen Ungarn

IRIS 2024-8:1/16

Dirk Voorhoof

Menschenrechtszentrum, Universität Gent und Legal Human Academy

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) fällte ein interessantes Urteil zu den Auswirkungen des Rechts auf freie Meinungsäußerung gemäß Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) in privatrechtlichen Beziehungen und die positive Verpflichtung der Behörden, das Recht auf freie Meinungsäußerung und Information in vertraglichen Beziehungen zu schützen. Der EGMR befand einstimmig, dass die Verhängung eines Bußgeldes gegen einen Schauspieler, der vertrauliche Informationen über die Bedingungen seines Vertrags mit einer Fernsehgesellschaft preisgegeben hatte, nicht gegen dessen Recht auf freie Meinungsäußerung verstoßen habe. Die Verbreitung der fraglichen Informationen könne durch vertragliche Vertraulichkeitsverpflichtungen zum Schutz der Geschäftsinteressen im audiovisuellen Sektor eingeschränkt werden.

Im Agenturvertrag ging es um die Rolle von Gergely Boronyák in einer Fernsehserie, die vom Unterstützungs- und Vermögensverwaltungsfonds für Mediendienste (MTVA), einem staatlichen Unternehmen, produziert wurde. Der Vertrag enthielt eine Vertraulichkeitsklausel, mit der der Fernsehschauspieler zustimmte, keine vertraulichen Geschäftsinformationen aus dem Vertrag offenzulegen. Dies betraf unter anderem Daten und Informationen über den Auftraggeber und seine Partner, seine Eigentumsverhältnisse und Geschäftsverbindungen, Mediendiensttätigkeiten, Programmproduktion, die Schauspieler der Serie oder über andere Personen, die für ihren Beitrag zur Serie ein Honorar erhielten. Gemäß der Vereinbarung hatte der Fernsehschauspieler neben etwaigem Schadensersatz ein Bußgeld in Höhe von HUF 10.000.000 (ca. EUR 26.000) zu zahlen, sollte er gegen die Vertraulichkeitspflicht verstoßen, sofern die Produktionsgesellschaft nicht der Offenlegung vertraulicher Informationen zugestimmt hat.

Das Produktionsunternehmen behielt sich das Recht vor, den Vertrag jederzeit einseitig zu kündigen. Offenbar wurde wegen des geringen Interesses an der Fernsehserie die Produktion ein Jahr später eingestellt und die Fernsehproduktionsgesellschaft kündigte den Vertrag mit Boronyák. Etwa anderthalb Jahre später gab Boronyák Investigativjournalisten ein Interview zum Vertrag und zur Fernsehserie, in dem er auch über die Honorare sprach, die er von der Fernsehproduktionsgesellschaft erhalten hatte. Nach einem Gerichtsverfahren in Ungarn wurde er zur Zahlung von HUF 10.000.000 und Übernahme der Prozesskosten der Produktionsfirma verurteilt.

Unter Berufung auf Artikel 10 EMRK klagte Boronyák wegen Unverhältnismäßigkeit des Bußgelds. Er brachte zudem vor, dass es sich bei den von ihm weitergegebenen Informationen um Informationen von öffentlichem Interesse gehandelt habe, die bereits öffentlich zugänglich gewesen seien: Einem investigativen Internetportal, das sich auf die Veröffentlichung von Informationen von öffentlichem Interesse, insbesondere über öffentliche Ausgaben, spezialisiert hat, war es gelungen, Zugang zu Informationen über die Produktionskosten der Fernsehserie und zu verschiedenen Dokumenten über die Einstellung der Produktion zu erlangen. Boronyák machte geltend, die nationalen Gerichte hätten weder die Umstände der Offenlegung noch die Tatsache berücksichtigt, dass die Informationen von öffentlichem Interesse gewesen seien, da es sich um Zahlungen aus öffentlichen Mitteln gehandelt habe. Die ungarische Regierung trug im Wesentlichen vor, dass die Einschränkung der freien Meinungsäußerung von Boronyák in der Vertragsklausel vorgesehen gewesen sei, der er freiwillig zugestimmt habe und die mit den einschlägigen Bestimmungen des Zivilgesetzbuchs über vertragliche Verpflichtungen in Einklang gestanden habe.

In Bezug auf die anzuwendenden allgemeinen Grundsätze bekräftigte der EGMR, dass sich der Schutz nach Artikel 10 EMRK bei Streitigkeiten zur Meinungsfreiheit im Kontext beruflicher Beziehungen auf den Arbeitsplatz im Allgemeinen erstrecke. Artikel 10 EMRK sei nicht nur in den Beziehungen zwischen einem Arbeitgeber und einem Arbeitnehmer verbindlich, wenn diese Beziehungen durch öffentliches Recht geregelt seien, sondern könne auch gelten, wenn sie privatrechtlich geregelt seien. Die tatsächliche und wirksame Ausübung des Rechts auf freie Meinungsäußerung hänge nicht allein von der Pflicht des Staates zur Nichteinmischung ab, sondern könne auch positive Schutzmaßnahmen selbst im Verhältnis zwischen Einzelpersonen erfordern. In bestimmten Fällen habe der Staat eine positive Verpflichtung, das Recht auf freie Meinungsäußerung zu schützen, selbst gegen Eingriffe von Privatpersonen. Der EGMR hatte daher festzustellen, ob die ungarischen Justizbehörden im vorliegenden Fall, als sie den Ansprüchen der Produktionsgesellschaft stattgaben, Boronyáks Recht auf freie Meinungsäußerung, wie es in Artikel 10 EMRK im Rahmen vertraglicher Beziehungen garantiert ist, angemessen gesichert und gegen das Recht der Fernsehgesellschaft auf Schutz ihrer Geschäftsinteressen abgewogen haben.

Der EGMR stellte zunächst fest, dass Boronyák nicht behauptet habe, er habe ein Fehlverhalten der Fernsehgesellschaft aufdecken wollen. Er hält es daher nicht für notwendig, die Art von Fragen zu untersuchen, die in seiner Rechtsprechung zum Whistleblowing im Mittelpunkt stehen (vgl. Halet gegen Luxemburg, IRIS 2023-4:1/23). Als Nächstes nahm der EGMR zur Kenntnis, dass die Parteien den Umfang ihrer Verpflichtungen im Agenturvertrag selbst festgelegt haben und dass Boronyák freiwillig und wissentlich der Geheimhaltungsklausel zugestimmt und damit auf sein Recht verzichtet hat, Informationen über die Vertragsbedingungen weiterzugeben. Die Freiwilligkeit des Vertrags war jedoch nicht der einzige Faktor, auf den sich die nationalen Gerichte beriefen, um die Einschränkung des Rechts Boronyáks auf freie Meinungsäußerung zu rechtfertigen. Anstatt die Vertraulichkeitsverpflichtung und die sich daraus ergebende Strafe unter Berufung auf die Vertragsfreiheit der Parteien automatisch zu bestätigen, analysierten die nationalen Gerichte die Auswirkungen der Klausel auf die Meinungsfreiheit und den Zugang der Öffentlichkeit zu Informationen von öffentlichem Interesse, um die widerstreitenden Interessen der Vertragsparteien gegeneinander abzuwägen.

Der EGMR erkannte an, dass sich Boronyák bei der Offenlegung von Informationen über die Ausgaben des Staatshaushalts auf das öffentliche Interesse berief, um die Veröffentlichung konkreter Bedingungen seines Vertrags zu rechtfertigen. Auch das Verhalten privater Strukturen wie Unternehmen, die sich unweigerlich und wissentlich einer genauen Prüfung ihrer Handlungen aussetzen, kann in bestimmten Situationen eine Information von öffentlichem Interesse darstellen. Die Offenlegung von Informationen, die von öffentlichem Interesse sind, kann jedoch nicht losgelöst von der verletzten Vertraulichkeits- oder Geheimhaltungspflicht bewertet werden.

Nach Ansicht des EGMR nimmt das öffentliche Interesse an der Offenlegung vertraulicher Informationen je nachdem ab, ob sich die offengelegten Informationen auf rechtswidrige Handlungen oder Vorgehensweisen, auf verwerfliche Handlungen, Vorgehens- oder Verhaltensweisen oder auf eine Angelegenheit beziehen, die eine kontroverse Debatte darüber auslöst, ob der Öffentlichkeit ein Schaden entsteht oder nicht (siehe Halet gegen Luxemburg, IRIS 2023-4:1/23). Der EGMR verwies in diesem Zusammenhang auf das relative Gewicht des öffentlichen Interesses an den im vorliegenden Fall offengelegten Informationen in Anbetracht der Tatsache, dass diese weder rechtswidrige Handlungen noch verwerfliche Vorgehensweisen, sondern lediglich die individuellen Bedingungen des Vertrags von Boronyák betrafen. Boronyáks Offenlegung vertraulicher Informationen war nicht unabdingbar, um die Verfügbarkeit von Informationen zu gewährleisten, die eine Debatte über Fragen von öffentlichem Interesse ermöglichen, zumal die mit der Verwaltung des Staatshaushalts betrauten Stellen gesetzlich verpflichtet waren, solche Daten auf Anfrage offenzulegen. Die nationalen Gerichte gaben Anträgen von Journalisten statt, mit denen die Fernsehgesellschaft angewiesen wurde, die gewünschten Informationen zum Budget der Fernsehserie herauszugeben. Dessen ungeachtet erkannte der EGMR an, dass die im Vertrag mit Boronyák vereinbarte Vertraulichkeit im Allgemeinen für die Geschäftstätigkeit des Unternehmens notwendig war.

Schließlich vertrat der EGMR die Auffassung, dass das verhängte Bußgeld von rund EUR 26.000 angesichts der Umstände der Offenlegung der fraglichen Informationen hoch erscheinen könnte, wegen der besonderen Schwere der Verletzung vertraglicher Verpflichtungen jedoch gerechtfertigt ist. Daher konnte der EGMR keine gewichtigen Gründe dafür erkennen, seine eigene Auffassung an die Stelle derjenigen der nationalen Gerichte zu setzen und die vorgenommene Abwägung zu verwerfen. Er stellte fest, dass die ungarischen Justizbehörden eine faire Abwägung zwischen dem Interesse Boronyáks an freier Meinungsäußerung einerseits und dem Interesse der Fernsehgesellschaft am Schutz ihres Geschäftsgeheimnisses andererseits vorgenommen und damit innerhalb ihres Ermessensspielraums gehandelt haben. Entsprechend liegt kein Verstoß gegen Artikel 10 EMRK vor.


Referenzen

  • Judgment by the European Court of Human Rights, First Section, in the case Boronyák v. Hungary, Application no.  4110/20, 20 June 2024.
  • https://hudoc.echr.coe.int/eng?i=001-234265
  • Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, Erste Sektion, in der Rechtssache Boronyák gegen Ungarn, Beschwerde Nr. 4110/20, 20. Juni 2024

Verknüpfte Artikel

IRIS 2023-4:1/23 Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (Große Kammer): Halet gegen Luxemburg

Dieser Artikel wurde in IRIS Rechtliche Rundschau der Europäischen Audiovisuellen Informationsstelle veröffentlicht.