Aserbaidschan

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte: RFE/RL Inc. und andere gegen Aserbaidschan

IRIS 2024-7:1/15

Dirk Voorhoof

Menschenrechtszentrum, Universität Gent und Legal Human Academy

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) fällte ein weiteres bahnbrechendes Urteil zur pauschalen Sperrung von Online-Medien und zum Recht auf freie Meinungsäußerung und Informationsfreiheit. Aserbaidschanische Gerichte hatten entschieden, den Zugang zu einer Reihe von Medien-Websites mit der Begründung zu sperren, dass bestimmte dort veröffentlichte Artikel nach den aserbaidschanischen Mediengesetzen mutmaßlich unzulässige Inhalte enthielten. Der EGMR stellte eine Verletzung von Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) fest, da die gesetzlichen Bestimmungen, auf denen die Sperranordnungen beruhten, unbegrenzten Raum für unkontrollierte Willkür der nationalen Behörden gewährten. Das den Behörden eingeräumte Ermessen stelle sich in Wirklichkeit als uneingeschränkte Befugnis dar und sei nicht durch ausreichende Schutzmaßnahmen gegen Willkür beschränkt.

In dem Fall geht es um die behördlichen Entscheidungen zur vollständigen Sperrung des Zugangs zu vier Online-Medien seit 2017/18. Diese Online-Medien sind azadliq.org, anaxeber.az, az24saat.org und xural.com. Insbesondere wurde befunden, dass Azadliq.org, die Website von Radio Free Europe / Radio Liberty, „Informationen veröffentlicht hat, die Gewalt und religiösen Extremismus fördern und unter anderem zu Massenunruhen aufrufen“; allen vier Websites wurde vorgeworfen, „falsche, irreführende und verleumderische Informationen“ veröffentlicht zu haben. Vor dem EGMR beklagten die Beschwerdeführer eine Verletzung ihres Rechts nach Artikel 10 EMRK (Recht auf freie Meinungsäußerung und Informationsfreiheit). Sie beriefen sich darüber hinaus auf Artikel 6 (Recht auf ein faires Verfahren), Artikel 13 (Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf) und Artikel 18 (Begrenzung der Rechtseinschränkungen) EMRK. Die Online-Medien machten insbesondere geltend, die Sperren seien angeordnet worden, da sie der Regierung kritisch gegenüberstehen und Machtmissbrauch und Korruption aufdecken würden.

Zunächst lehnte der EGMR den Antrag der aserbaidschanischen Regierung ab, die Anträge für unzulässig zu erklären, da den Beschwerdeführern kein erheblicher Nachteil (Art. 35 Abs. 3 Buchst. b EMRK) entstanden sei, weil einige ihrer Inhalte weiterhin über VPN-Software oder alternative Webbrowser online zugänglich gewesen seien. Der EGMR stimmte den Beschwerdeführern zu, dass die bloße Tatsache, dass die Zugangsbeschränkungen von einzelnen Nutzern mit Hilfe von VPN-Diensten oder alternativen Webbrowsern umgangen werden könnten, die Gesamtwirkung der Sperrmaßnahmen in Wirklichkeit nicht wesentlich mindern könne. Es sei vernünftigerweise davon auszugehen, dass durchschnittliche Internetnutzer (deren Wissen über verschiedene Softwareoptionen nicht so umfangreich ist wie das erfahrenerer Nutzer), wenn sie feststellen, dass eine Nachrichten-Website, auf die sie zuzugreifen versuchen, faktisch unzugänglich sei, nicht unbedingt versuchen würden, sich über VPN-Dienste oder alternative, weniger bekannte Webbrowser zu informieren, sie herunterzuladen und zu nutzen, um zu versuchen, die Zugangsbeschränkungen zu umgehen. Darüber hinaus seien sie sich möglicherweise nicht einmal bewusst, dass die Website aufgrund einer gerichtlich angeordneten Sperre nicht zugänglich sei und nicht einfach nur nicht mehr vorhanden sei oder aufgrund technischer Probleme nicht funktioniere. Einige oder viele Nutzer, die mit solchen Optionen und Alternativen vertraut seien, so der EGMR in Übereinstimmung mit den Beschwerdeführern, würden aus verschiedenen Datenschutz- oder anderen Gründen, unter anderem, weil sie für voll funktionsfähige Versionen von VPN-Diensten zahlen müssten und bestimmte alternative Webbrowser schlechtere Leistungen brächten, möglicherweise eher von der Nutzung dieser Dienste absehen. Der EGMR stellte zudem fest, dass einige Internetnutzer zwar offenbar von Aserbaidschan aus über ein VPN oder aus dem Ausland ungehindert auf ihre Websites zugegriffen hätten, die Websites jedoch nach den Sperrmaßnahmen mehr als 90 % ihres früheren Datenverkehrs verloren hätten, wodurch ihre Möglichkeiten, Informationen an ihr übliches Website-Publikum in Aserbaidschan zu übermitteln, erheblich eingeschränkt worden seien.

Anschließend bekräftigte der EGMR die allgemeinen Grundsätze, die auf den vorliegenden Fall anzuwenden sind: „Aufgrund seiner Zugänglichkeit und seiner Fähigkeit, große Mengen an Informationen zu speichern und zu übermitteln, ist das Internet zu einem der wichtigsten Mittel geworden, mit dem Einzelpersonen ihr Recht auf Meinungs- und Informationsfreiheit ausüben. Das Internet bietet wichtige Instrumente für die Teilnahme an Aktivitäten und Diskussionen zu politischen Themen und Themen von allgemeinem Interesse, es verbessert den Zugang der Öffentlichkeit zu Nachrichten und erleichtert die Verbreitung von Informationen im Allgemeinen. Artikel 10 der Konvention garantiert ‚jeder Person‘ die Freiheit, Informationen und Ideen zu empfangen und weiterzugeben. Dies gilt nicht nur für den Inhalt der Informationen, sondern auch für die Mittel zu ihrer Verbreitung, denn jede Beschränkung dieser Mittel stellt zwangsläufig einen Eingriff in diese Freiheit dar“. Maßnahmen, die den Zugang zu Websites sperren, wirken sich unweigerlich auf die Zugänglichkeit des Internets aus und berühren daher die Verantwortung des beklagten Staates nach Artikel 10 EMRK.

Der EGMR befand, dass das innerstaatliche Recht keine ausreichenden Schutzmaßnahmen vor willkürlichen Eingriffen in Form von vorläufigen Sperrmaßnahmen biete, die vom Ministerium für Verkehr, Kommunikation und Hochtechnologie (MTCHT) ohne gerichtliche Entscheidung verhängt würden, und dass darüber hinaus die eigentlich gesetzlich vorgesehenen Schutzmaßnahmen in diesem Fall nicht beachtet worden seien. Der EGMR verwies auch auf die Tatsache, dass die einschlägige Bestimmung des Mediengesetzes vorsehe, dass nur natürliche und juristische Personen, deren Ehre und Würde durch Veröffentlichungen verleumderischer Art in Misskredit gebracht wurde, das Recht hätten, einen Widerruf, eine Richtigstellung oder eine Gegendarstellung zu verlangen, sowie das Recht, sich mit einer Verleumdungsklage direkt an ein Gericht zu wenden. Das Mediengesetz gebe also Behörden wie dem MTCHT nicht das Recht, derartige Ansprüche im Namen solcher natürlichen oder juristischen Personen geltend zu machen. Es übertrage einem inländischen Gericht keine Zuständigkeit festzustellen, dass eine bestimmte Veröffentlichung verleumderisch ist, ohne dass eine direkte einschlägige Klage der natürlichen oder juristischen Person, deren Rechte verletzt wurden, eingereicht wurde. Auch die einschlägigen Bestimmungen des Gesetzes über Informationen, Informatisierung und Informationsschutz (IIPI-Gesetz), wie sie von den inländischen Gerichten ausgelegt und angewandt worden seien, seien in ihren Wirkungen nicht hinreichend vorhersehbar, um den Beschwerdeführern die Möglichkeit zu geben, ihre Vorgehensweise festzulegen, und würden den Umfang und die Art und Weise der Ausübung des Ermessens, das den Behörden in dem von ihnen geregelten Bereich eingeräumt werde, nicht hinreichend klar angeben. Die streitigen Bestimmungen seien als uneingeschränkte Befugnis ohne ausreichende Schutzmaßnahmen vor Willkür formuliert. Die rechtlichen Bestimmungen, auf die sich die Sperranordnungen stützten, seien daher in einer unvorhersehbar weiten, willkürlichen und offensichtlich unangemessenen Weise angewandt worden.

In Anbetracht dieser Erwägungen stellte der EGMR fest, dass die pauschale Sperrung der Medien-Websites nicht das Erfordernis „gesetzlich vorgeschrieben“ gemäß Art. 10 Abs. 2 EMRK erfüllte. Diese Feststellung reichte für den Schluss aus, dass die fraglichen angeordneten Sperrungen gegen Artikel 10 EMRK verstießen. Nach dieser Schlussfolgerung musste der EGMR sich nicht weiter davon überzeugen, ob die anderen Anforderungen nach Art. 10 Abs. 2 EMRK (legitimes Ziel und Notwendigkeit des Eingriffs) erfüllt waren. Nachdem der EGMR die wichtigsten Rechtsfragen, die sich aus Artikel 10 EMRK ergeben, behandelt hatte, entschied er darüber hinaus, dass es nicht erforderlich sei, gesondert über die Zulässigkeit und die Begründetheit der übrigen Beschwerden der Beschwerdeführer nach Artikel 6, 13 und 18 EMRK zu entscheiden.


Referenzen

  • Judgment by the European Court of Human Rights, First Section, in the case of RFE/RL Inc. and Others v. Azerbaijan, Application No. 56138/18 and 3 others, 13 June 2024
  • https://hudoc.echr.coe.int/eng?i=001-234138
  • Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, Erste Sektion, in der Rechtssache RFE/RL Inc. und andere gegen Aserbaidschan, Beschwerden Nr. 56138/18 und drei weitere, 13. Juni 2024

Dieser Artikel wurde in IRIS Rechtliche Rundschau der Europäischen Audiovisuellen Informationsstelle veröffentlicht.