Ungarn

Europäische Gerichtshof für Menschenrechte: Mária Somogyi gegen Ungarn

IRIS 2024-6:1/20

Dirk Voorhoof

Menschenrechtszentrum, Universität Gent und Legal Human Academy

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat einen Verstoß gegen das Recht auf freie Meinungsäußerung gemäß Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) in einem Fall festgestellt, der das Teilen eines Facebook-Postings betrifft, in dem eine Gemeinde kritisiert wurde.

Der Fall geht auf das Jahr 2014 zurück, als K. einen Beitrag auf seiner Facebook-Seite veröffentlichte, in dem er die Einwohner von Tata, einer Stadt im Nordwesten Ungarns, zur Teilnahme an einer Demonstration aufrief, um gegen den Verkauf eines der Gemeinde Tata gehörenden Gebäudes zu protestieren. Laut K. wurde das Gebäude zu einem unangemessen niedrigen Preis an einen örtlichen Geschäftsmann verkauft, der dasselbe Gebäude dann zu einem „lächerlich hohen Preis“ an kommunale Einrichtungen vermietete. K. beschrieb dies als „Raub an den Bürgerinnen und Bürgern von Tata“. Mária Somogyi teilte K.s Posting auf ihrer Facebook-Pinnwand und fügte einen eigenen kritischen Kommentar zu einem anderen Thema hinzu, bei dem es um die hohen Kosten des Kaufs eines neuen Gebäudes durch die Gemeinde ging. Die Gemeinde Tata und das gemeinsame Gemeindeamt Tata erhoben Zivilklage gegen Somogyi, mit der sie wegen der Verletzung ihres Rechts auf einen guten Ruf einen Schadenersatz für den immateriellen Schaden in Höhe von EUR 1.400 sowie eine Unterlassungsverfügung beantragten, mit der ihr auferlegt wurde, ihr rechtswidriges Verhalten einzustellen und weiteres rechtswidriges Verhalten zu unterlassen. Im Jahr 2015 gab das Gericht von Tatabánya im Zivilverfahren der Klage der Beschwerdeführenden statt und verurteilte Somogyi dazu, auf ihrer Facebook-Seite eine Entschuldigung und die Mitteilung zu posten, dass die Behauptung in ihrem Facebook-Posting falsch war, verbunden mit der Anordnung, der Gemeinde Schadenersatz für den immateriellen Schaden zu zahlen. Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung und war der Auffassung, dass juristische Personen Anspruch auf den Schutz ihres guten Rufs hätten, was im Fall öffentlicher Einrichtungen mit dem öffentlichen Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger gleichzusetzen sei. Es stimmte der Feststellung des erstinstanzlichen Gerichts zu, dass es in dem Fall nicht um die Ausübung der öffentlichen Gewalt durch die Gemeinde, sondern um ihre Eigentumsrechte ging. Außerdem stellte es fest, dass die Verbreitung unwahrer Informationen nicht durch das Recht auf freie Meinungsäußerung geschützt sei. Die angeordnete Zahlung von immateriellem Schadenersatz wurde auf EUR 28 verringert. Diese Entscheidung wurde von der Kuria bestätigt, während das Verfassungsgericht die Verfassungsbeschwerde von Somogyi abwies.

Somogyi reichte eine Beschwerde beim EGMR ein und machte geltend, dass die Entscheidung der innerstaatlichen Gerichte, wegen des Teilens eines Facebook-Postings eines Dritten eine Strafe gegen sie zu verhängen, einen Verstoß gegen Artikel 10 der EMRK darstellte. Sie brachte vor, dass sich die Gemeinde als staatliche Behörde nicht auf das Recht auf Achtung des Privatlebens und den Schutz ihres guten Rufs gemäß Artikel 8 der EMRK berufen könne und dass die Zahlung von immateriellem Schadenersatz und die mit dem mehrere Jahre dauernden Gerichtsverfahren verbundenen Kosten in keinem Verhältnis zur Belanglosigkeit des Facebook-Postings gestanden hätten. Im Mittelpunkt des EGMR-Urteils stand die Frage, ob der Eingriff in Somogyis Recht auf freie Meinungsäußerung im Rahmen des Anwendungsbereichs der Klausel „Schutz des guten Rufes … anderer“ in Artikel 10, Absatz 2 der EMRK gerechtfertigt werden kann. Es wurde festgestellt, dass diese Klausel nicht auf natürliche Personen beschränkt ist, ungeachtet des Unterschieds zwischen den Reputationsinteressen einer juristischen Person und dem guten Ruf einer Einzelperson als Mitglied der Gesellschaft. In Bezug auf öffentliche Einrichtungen, die einen rechtlichen Schutz ihres guten Rufs anstreben, hat der EGMR allerdings festgehalten, dass kommunale Behörden, öffentliche Unternehmen und politische Parteien nicht wegen Diffamierung klagen können, weil ein öffentliches Interesse daran besteht, dass eine demokratisch gewählte Organisation oder eine von einer solchen Organisation kontrollierte Einrichtung für ungehinderte öffentliche Kritik offen sein muss. Die Abschirmung von Organen der exekutiven Staatsgewalt gegenüber Medienkritik durch die Gewährung des Schutzes ihres „geschäftlichen Rufs“ könne die Medienfreiheit ernsthaft beeinträchtigen. Die Zulassung von Diffamierungsklagen gegen Medienvertreter durch Exekutivorgane lege den Medien eine übermäßige und unverhältnismäßige Bürde auf und könne bei der Erfüllung ihrer Funktion als Informationsanbieter und als öffentlicher Wächter („public watchdog“) unweigerlich eine abschreckende Wirkung auf die Medien haben. Der EGMR verwies auch auf seine Feststellungen im Fall OOO Memo gegen Russland (IRIS 2022-5/19), in dem er die Auffassung vertrat, dass sich mit staatlichen Befugnissen ausgestattete Exekutivorgane wesentlich von juristischen Personen, einschließlich der öffentlichen oder staatlichen Unternehmen, unterscheiden, die wettbewerbsbestimmte Tätigkeiten auf dem Markt ausüben. Letztere stützten sich auf ihren guten Ruf, um mit dem Ziel, auf dem Markt Gewinne zu erzielen, neue Kunden anzuziehen, während Exekutivorgane im Dienste der Öffentlichkeit stünden und von den Steuerzahlern finanziert würden. Aus diesem Grund könne im Allgemeinen nicht davon ausgegangen werden, dass zivile Diffamierungsklagen, welche von einer juristischen Person, die staatliche Befugnisse ausübt, angestrengt werden, ein legitimes Ziel des „Schutzes des guten Rufes ... anderer“ gemäß Artikel 10, Absatz 2 der EMRK verfolgen.

Schließlich ist der EGMR nicht davon überzeugt, dass die Gemeinde Tata ein Interesse am Schutz ihres wirtschaftlichen Erfolgs und ihrer wirtschaftlichen Lebensfähigkeit gehabt habe, sei es zugunsten von Aktionären und Arbeitnehmenden oder um des allgemeinen wirtschaftlichen Wohls willen, das einen rechtlichen Schutz rechtfertigen würde. Die Gemeinde Tata sei kein wettbewerbsfähiger Akteur auf dem Immobilienmarkt gewesen, der danach strebte, seine Gewinne zu maximieren, indem er Kunden anzieht. Selbst bei der Ausübung ihres Rechts auf Eigentum sollte sie der Öffentlichkeit dienen und sei von den Steuerzahlern finanziert worden. Es lasse sich auch keinesfalls behaupten, dass ihre Mitglieder „leicht identifizierbar“ seien, da weder der von Somogyi geteilte ursprüngliche Beitrag noch ihr eigener Kommentar ein mutmaßliches Fehlverhalten von identifizierten oder identifizierbaren Mitarbeitenden betraf. Auf jeden Fall sei die Diffamierungsklage von den juristischen Personen als solchen erhoben worden, nicht von ihren einzelnen Mitgliedern. Dementsprechend stellte der EGMR fest, dass die von der Gemeinde Tata gegen Somogyi angestrengte Diffamierungsklage keins der in Artikel 10, Absatz 2 der EMRK aufgeführten legitimen Ziele verfolgte. Wenn nachgewiesen worden sei, dass der Eingriff kein legitimes Ziel verfolgte, sei es nicht notwendig, zu untersuchen, ob er „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ ist. Folglich kam der EGMR einstimmig zu dem Schluss, dass ein Verstoß gegen Artikel 10 der EMRK vorliegt.


Referenzen

  • Judgment by the European Court of Human Rights, First Section, in the case Mária Somogyi v. Hungary, Application No. 15076/17, 16 May 2024
  • https://hudoc.echr.coe.int/eng?i=001-233633
  • Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, Erste Sektion, im Fall Mária Somogyi gegen Ungarn, Beschwerde Nr. 15076/17, 16. Mai 2024

Verknüpfte Artikel

IRIS 2022-5:1/19 Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte: OOO Memo gegen Russland

Dieser Artikel wurde in IRIS Rechtliche Rundschau der Europäischen Audiovisuellen Informationsstelle veröffentlicht.