Portugal

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte: Almeida Arroja gegen Portugal

IRIS 2024-5:1/19

Dirk Voorhoof

Menschenrechtszentrum, Universität Gent und Legal Human Academy

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat erneut einen Verstoß gegen Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) in einem Fall einer strafbaren Verleumdung im Zusammenhang mit einer Angelegenheit von öffentlichem Interesse festgestellt. Der EGMR führte insbesondere aus, dass die strafrechtliche Verurteilung des Beschwerdeführers offenkundig unverhältnismäßig war, da das portugiesische Zivilgesetzbuch bei Beschädigung von Ehre und gutem Ruf einen spezifischen Rechtsbehelf vorsieht. Außerdem befand der Gerichtshof in Anbetracht der Tatsache, dass die kritischen Äußerungen in einem Interview auf einem lokalen Fernsehsender mit lediglich begrenzter Zuschauerzahl erfolgten, den vom Beschwerdeführer zu zahlenden Schadenersatz für erkennbar unverhältnismäßig. Der EGMR war der Auffassung, dass eine Sanktion dieser Art und Schwere geeignet sei, Personen davon abzuhalten, Angelegenheiten von rechtmäßigem öffentlichem Interesse zu diskutieren, und eine „abschreckende Wirkung“ auf die freie Meinungsäußerung habe.

Der Beschwerdeführer in diesem Fall, Herr Almeida Arroja, ist ein Ökonom und Universitätsprofessor, der zur maßgeblichen Zeit in der Montagsausgabe einer täglich ausgestrahlten Nachrichtensendung des privaten Fernsehsenders Porto Canal politische Kommentare lieferte. Er war auch der Vorsitzende eines Vereins, der gegründet wurde, um Geld zu sammeln und den Bau eines pädiatrischen Flügels für das Krankenhaus São João in Porto zu unterstützen. Im Jahr 2015 nahm er an einer Diskussion auf Porto Canal teil, bei der einige seiner Kommentare auf die politischen Interessen anspielten, die der Rechtsberatung zugrunde lagen, die eine Rechtsanwaltskanzlei für das betreffende Krankenhaus geleistet hatte. Genauer gesagt kritisierte er P. R., einen Rechtsanwalt, der zur maßgeblichen Zeit Direktor der Rechtsanwaltskanzlei C. und außerdem ein bekannter Politiker und Mitglied des Europäischen Parlaments war. Im Wesentlichen warf Almeida Arroja P. R. und der Rechtsanwaltskanzlei C. vor, Hindernisse für das Bauprojekt am Krankenhaus São João geschaffen zu haben. P. R. und die Rechtsanwaltskanzlei C. erstatteten bei der Staatsanwaltschaft Strafanzeige gegen Almeida Arroja wegen schwerer Verleumdung und Beleidigung einer juristischen Person. Laut dem Urteil des Strafgerichts hatte Almeida Arroja eine falsche Anschuldigung geäußert, da es die Krankenhausverwaltung war, die dem Projekt Hindernisse in den Weg gelegt hatte, und nicht die Rechtsanwaltskanzlei C. oder P. R. Die falsche Anschuldigung habe dem Ansehen der Rechtsanwaltskanzlei C. geschadet und P. R. gedemütigt und seine Ehre sowie sein politisches Ansehen und seinen Berufsstolz als Rechtsanwalt beschädigt. Almeida Arroja wurde wegen Beleidigung und Verleumdung zur Zahlung von EUR 7.000 verurteilt sowie zur Zahlung von EUR 5.000 Schadenersatz an die Rechtsanwaltskanzlei und EUR 10.000 an P. R.

Unter Berufung auf Artikel 10 der EMRK und nach Ausschöpfung aller innerstaatlichen Rechtsbehelfe reichte Almeida Arroja eine Beschwerde beim EGMR ein und machte einen Verstoß gegen sein Recht auf freie Meinungsäußerung geltend. Nachdem der EGMR übereinstimmend festgestellt hatte, dass der Eingriff in das Recht des Beschwerdeführers im vorliegenden Fall das legitime Ziel verfolgte, gemäß Artikel 8 der EMRK den guten Ruf und die Rechte anderer und insbesondere das Ansehen, den guten Ruf und die Ehre von P. R. zu schützen, konzentrierte er sich auf die Frage, ob der Eingriff in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war. Der EGMR verwies auf die Abwägungsprüfung im Fall widerstreitender Rechte im Rahmen von Artikel 8 und 10 der EMRK und die einschlägigen Kriterien im Zusammenhang mit der Abwägung zwischen diesen konkurrierenden Rechten, wie z. B. der Beitrag zu einer Debatte von öffentlichem Interesse, der Bekanntheitsgrad der betreffenden Person, das Thema des Nachrichtenberichts, das vorherige Verhalten der betreffenden Person, der Inhalt und die Methode zur Erlangung der Informationen und ihre Richtigkeit, die Form und die Folgen der Veröffentlichung und die Schwere der verhängten Strafe. Der EGMR stellte fest, dass es sich bei P. R. zweifellos um eine Person des öffentlichen Lebens handelte und dass die Äußerungen von Almeida Arroja Teil einer umfassenderen Kritik bezüglich unzulässiger Verbindungen zwischen Politikern und der öffentlichen Verwaltung waren, was ein Thema von öffentlichem Interesse ist. Die strittigen Äußerungen kämen einer Verknüpfung von Fakten und Werturteilen gleich, seien jedoch größtenteils Meinungen, die nicht wahr oder falsch sein können. Was die Auswirkungen der betreffenden Äußerungen angeht, merkte der EGMR an, dass sie im Rahmen einer täglich ausgestrahlten Nachrichtensendung des privaten Fernsehsender Porto Canal getätigt wurden, der ein Publikum von mehr als 9.500 Fernsehzuschauern erreicht. Das Interview sei online verfügbar geblieben und mehr als 2.000 Mal aufgerufen worden; es sei auch in Blogs wiedergegeben worden. Allerdings stellte der EGMR in Anbetracht der Größe der Stadt Porto fest, dass die Reichweite der Äußerungen unbedeutend war. Hinsichtlich der Art und Schwere der beanstandeten Sanktionen bekräftigte der EGMR, dass die bloße Tatsache einer strafrechtlichen Sanktion an sich geeignet sei, eine abschreckende Wirkung zu entfalten, auch wenn der betreffende Betrag moderat ist und die Person ihn problemlos zahlen kann. Der EGMR war der Auffassung, dass die bloße Verurteilung von Almeida Arroja offenkundig unverhältnismäßig gewesen sei, insbesondere weil das portugiesische Zivilgesetzbuch bei Beschädigung von Ehre und gutem Ruf einen spezifischen Rechtsbehelf vorsieht. Darüber hinaus müsse ein Schadenersatz wegen Verleumdung in einem angemessenen Verhältnis zur erlittenen Rufschädigung stehen, wohingegen die Höhe des Schadenersatzes an die Rechtsanwaltskanzlei C. und P. R., zu dem Almeida Arroja verurteilt wurde, im Hinblick auf den Schaden, der dem guten Ruf der betreffenden beiden Parteien zugefügt wurde, und unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die Äußerungen von einem privaten Fernsehsender mit begrenzter Zuschauerzahl ausgestrahlt wurden, erkennbar unverhältnismäßig erschien. Für den Gerichtshof war es, auch in Anbetracht dessen, dass nicht festgestellt wurde, dass die Tätigkeiten der Rechtsanwaltskanzlei C. oder die Karriere von P. R. als Politiker oder Rechtsanwalt durch die strittigen Äußerungen beeinträchtigt wurden, schwer nachvollziehbar, dass die Schädigung von P. R.s gutem Ruf im vorliegenden Fall so schwerwiegend gewesen sei, dass ein Schadenersatz in dieser Höhe gerechtfertigt ist. Daher könne eine Sanktion dieser Art und Schwere geeignet sein, Personen davon abzuhalten, Angelegenheiten von rechtmäßigem öffentlichem Interesse zu diskutieren, und habe eine „abschreckende Wirkung“ auf die freie Meinungsäußerung.

Der EGMR kam zu dem Schluss, dass die von den innerstaatlichen Gerichten vorgenommene Abwägung nicht im Einklang mit den in der Rechtsprechung des Gerichtshofs festgelegten Kriterien erfolgte. Er stellte insbesondere fest, dass die innerstaatlichen Gerichte den Rechten auf guten Ruf und Ehre der Rechtsanwaltskanzlei C. und von P. R. gegenüber Almeida Arrojas Recht auf freie Meinungsäußerung in Bezug auf eine Debatte von öffentlichem Interesse ein unverhältnismäßiges Gewicht beigemessen haben. Folglich liegt ein Verstoß gegen Artikel 10 der EMRK vor.


Referenzen

  • European Court of Human Rights, Fourth Section, in the case Almeida Arroja v. Portugal, Application No. 47238/19, 19 March  2024
  • https://hudoc.echr.coe.int/?i=001-231606
  • Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Vierte Sektion, im Fall Almeida Arroja gegen Portugal, Beschwerde Nr. 47238/19, 19. März 2024

Dieser Artikel wurde in IRIS Rechtliche Rundschau der Europäischen Audiovisuellen Informationsstelle veröffentlicht.